novels4u.com

Life is too short for boring stories

Für Dich, der Du an meinen Wünschen Anteil nimmst!

Ein letzter Blick aus dem Fenster. Noch bin ich da, doch ich bin bereit aufzubrechen, bereit unsere Reise nach Ravenna anzutreten. Wobei, diese Reise als unsere zu bezeichnen, zeugt von einem gewissen Zweckoptimismus, denn Du kommst nach, hast Du gesagt. Du kannst heute noch nicht aufbrechen, hast Du gesagt. Du müsstest noch drei wichtige Dinge erledigen, bevor Du aufbrechen könntest. Ich respektiere das, ungeachtet der Tatsache, dass ich mir wünschte, Du könntest mitkommen, einfach mit mir mitkommen. Andererseits sind wir doch unentwegt auf der Reise, auf unserer Lebensreise, seit unserer ersten Begegnung sind wir immer wieder ein Stück gemeinsam gegangen. Doch diese Reise nach Ravenna, diese wäre unsere erste reale gemeinsame Reise.

Seit dem Moment, wo wir uns zu dieser Reise entschlossen haben, freue ich mich darauf, und ich lasse mir diese Freude auch nicht durch die Tatsache trüben, dass wir sie nun doch nicht gemeinsam antreten. Du kommst nach, hast Du gesagt, nur noch die paar Dinge erledigst Du, dann kommst Du nach, so schnell wie möglich. Um Dir nun dieses Nachkommen zu erleichtern, habe ich die Reise in zehn Etappen unterteilt, die 700 km nach Ravenna aufgeteilt auf die nächsten zehn Tage, so dass ich jeden Tag ca. 70 km zurücklegen werde. Heute werde ich bis Dechantskirchen fahren. Außerdem werde ich die großen Straßen meiden und ausschließlich Landstraßen benutzen, denn nicht nur, dass ich es Dir leichter machen möchte nachzukommen, ich möchte – wohl zum ersten Mal in meinem Leben, so weit ich mich erinnern kann – eine, unsere Reise als solche erleben.

Normalerweise sehe ich eine Distanz zwischen meinem Ausgangspunkt und dem Ankunftsort, den ich anstrebe, als nichts weiter, als ein Hindernis, das es so schnell wie möglich zu überwinden gilt. Ich bin schon sehr gespannt, wie sich das anfühlt, diese, unsere Reise als Reise an sich zu genießen. Hier zu bleiben, in dem Moment, in dem Atemzug, so wie ich es bisher nur bei Dir konnte. Nicht wie sonst, wenn sich meine Gedanken mit nichts anderem als mit der Ankunft beschäftigen, wenn ich mich über die Distanzüberwindung, die notwendige Distanzüberwindung, ärgere, weil ich sie als bloße Zeitverschwendung empfinde. Dabei wird es paradoxerweise nur zur Zeitverschwendung, da ich mich zur Ankunft wünsche, ohne Sinn für das Hier und Jetzt, das mir dadurch unwiederbringlich verloren geht.

Wie viel Lebenszeit wir doch verschenken! Heute und in den nächsten Tagen werde ich es anders machen. Im Hier und Jetzt bleiben. Das zu praktizieren, was ich durch Dich gelernt habe, und es gelingt mir auch nach wie vor nur bei Dir. Warum ist es mir bloß nicht möglich das mitzunehmen, hineinzunehmen in den Rest meines Lebens?

Eine kleine Weile noch, dann werde ich unterwegs sein. Glaub ja nicht, dass ich das Wegfahren verzögere. Tue ich es? Auf jeden Fall habe ich alles eingepackt, was Du mir aufgetragen hast, habe mich bereit gemacht für Deine Ankunft. Siehst Du, es passiert schon wieder, ich bin weg aus dem Hier und Jetzt, bei dem Zeitpunkt, in dem Du kommen wirst. Ich kann nicht bleiben, ich will nicht bleiben. Alles, was ich will ist, bei Dir sein, seit jener ersten Begegnung. Kannst Du Dich noch erinnern an jenen Abend?

Du bist eingebrochen in mein Leben wie eine Sturmflut, und hast es noch nicht einmal gemerkt. Aber was solltest Du auch merken? Wusste ich doch selbst nicht genau was vorging. Irgendetwas tief in mir sagte mir, nein, weniger, flüsterte mir zu, dass Du eine ganz besondere Rolle in meinem Leben spielen würdest, dass Du es nochmals völlig umkrempeln würdest. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich dieser Stimme in mir einfach anvertraut, unhinterfragt, so wie ich mich späterhin Dir anvertraut habe, ohne Wenn und Aber. Darin habe ich mich nicht geirrt, zumindest darin nicht. Umso mehr ich in Dich eingetaucht bin, umso mehr Du mich in Dich eintauchen ließt, desto besser konnte ich mit dem Scheitern umgehen. Du hast mir das ewige Scheitern, das Leben heißt, erträglich gemacht. Nicht, dass es am Scheitern irgendetwas geändert hätte, aber gemeinsames Scheitern lindert den Schmerz. Doch der größte Schmerz unter allen ist der, erkennen, anerkennen zu müssen, dass ich Dir nicht helfen kann, genauso wenig, wie Du mir helfen kannst, anerkennen zu müssen, dass wir immer allein bleiben, ganz egal wie nahe wir uns sein mögen, Du bleibst in Dir verschlossen, genauso wie ich in mir eingeschlossen bleibe. Es ist, als würde ich in einem Glaskäfig stehen, aus dem heraus ich Dich sehen, Dich erkennen, aber Dich dennoch nicht erreichen kann. Wir sind verschlossen in unserem physischen Sein. Die Leidenschaft des Anfangs spiegelt den nutzlosen Versuch diese Grenze sprengen zu wollen, verzweifelt in Dich verkrallt, verbissen, und doch nur äußerlich Spuren hinterlassend, nichts was tiefer dringt, dringen könnte. Wir kommen über unsere eigene Haut nicht hinweg, bleiben verhaftet in unserer eigenen, je eigenen, kleinen, einsamen, armseligen Hilflosigkeit.

Keine meiner Fragen kannst Du beantworten, genauso wenig wie ich die Deinen. Die Antwort kommt nur aus Dir selbst. Es ist notwendig sich unmissverständlich an den Platz zu stellen, an dem Du stehst. Alles andere wäre Selbstbetrug, der wohl manchmal sehr wohltäte, aber auf die Dauer den Blick auf das Eigentliche verstellt. Doch was ist das Eigentliche? Wozu lassen wir uns aufeinander ein, wenn wir uns keine Hilfe sein können, wenn wir nicht in der Lage sind auch nur einen Schritt aus uns heraus aufeinander zu, geschweige denn ineinander zu tun?

Wenn ich an all unsere Gespräche denke, an all die Momente, in denen ich Dir meine Sorgen und Ängste, Probleme und offenen Fragen versuchte mitzuteilen, dann gibt es nur eine Antwort darauf. Weil Du es immer wieder geschafft hast mich aus meinen eigenen Denkverstrickungen herauszuführen, mich aus dem Zirkel zu befreien, in dem ich gefangen war. Du hast den Nebel weggeblasen, der mein Sehen einschränkte und hast mir die Sicht erhellt. Die Lösungen und Antworten habe ich letztendlich selbst gefunden, doch den Weg dorthin hast Du mir geebnet.

Ich habe immer gehofft, Du würdest dasselbe von mir sagen können, aber mit solchen Aussagen warst Du immer recht sparsam. Ich musste sie förmlich aus Dir herauszerren. Irgendwann habe ich es einfach gelassen. Ich hätte es wissen müssen, und ich habe es wohl auch gewusst, und dennoch, immer wieder wollte ich es hören. Ich habe es Dir gesagt, immer und immer wieder, wohl auch hoffend, dass Du entsprechend meinen Vorstellungen reagierst. Ich habe lange, sehr lange gebraucht, bis ich begriffen habe, dass ich nichts weiter tat als meine Wünsche in Dich zu projizieren, ohne Konsequenzen daraus zu ziehen, aber am allerlängsten meine Wünsche als meine eigenen zu deklarieren und sie einzufordern. Nur das gab Dir die Möglichkeit ihnen nachzukommen, sie zu erfüllen, oder auch nicht. Auf allen anderen Wegen sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Du hast mich zu mir selbst und meinem Wollen befreit.

Ich habe mir nun doch noch einen Kaffee gemacht. Glaub ja nicht, dass es deswegen ist, um meine Abfahrt noch ein wenig hinauszuzögern! Ganz bestimmt nicht! Nein, es schien nur die Sonne gerade so schön auf die Terrasse und ich wollte den Ausblick noch ein wenig genießen, noch ein letztes Mal, bevor ich ihn einige Zeit hinter mir lasse.

Trotzdem, wie lange dauert es drei Dinge zu erledigen? Ich habe wohl vergessen Dich zu fragen, ob es große oder kleine Dinge sind. So schnell wie möglich kommst Du nach, hast Du gesagt, und für mich schwang darin mit, dass Du da sein wirst, am besten gleich, so wie ich es hören wollte und meinen Wünschen entsprach. Ich werfe einen Blick zur Türe, in der unausgesprochenen, unaussprechlichen Erwartung, dass Du jetzt und jetzt dastehst, um mir mitzuteilen, dass Du Deine drei Dinge erledigt hast und wir nun unsere Reise auch als unsere antreten werden. Jeden Moment könnte das passieren. Natürlich denke ich das nicht, Ich denke nicht, dass es sehr ärgerlich wäre Dich vielleicht um gerade mal zwei Minuten zu verpassen. Das Bild kann in meinem Kopf gar nicht entstehen, und wenn, dann schüttle ich es ganz schnell ab. Es würde mir eigentlich nur zum Amüsement dienen.

Ich sitze nur hier, um in Ruhe meinen Kaffee zu trinken. Aus keinem anderen, wie auch immer gearteten, Grund. Schließlich bin ich frei und unabhängig von Dir. Deshalb kann ich in meiner Freiheit und Unabhängigkeit auch entscheiden, mir Zeit zu lassen, mich nicht zu hetzen. Diese Entscheidung würde doch nur allzu gut zum Grundgedanken dieser, unserer Reise passen, sie an sich zu genießen.

Warum habe ich Dich nicht gefragt, was das für drei Dinge sind, die Du zu erledigen hast? Im selben Atemzug hast Du mir gesagt, was ich alles vorbereiten sollte. Wahrscheinlich war ich froh mich mit diesen Aufträgen ablenken zu können, von dieser eigentlichen, entscheidenden Frage. Warum nur habe ich Dich nicht gefragt, wie lange es dauert, diese drei Dinge zu erledigen? Warum bloß habe ich Dich nicht gefragt ob ich nicht einfach auf Dich warten kann,n um mit Dir gemeinsam unsere Reise auch als unsere Reise anzutreten? Ich hatte wohl die Absicht Dir damit zu demonstrieren, dass ich völlig unabhängig von Deinem Tun und Lassen für mich über mein Tun und Lassen entscheide. Wem wollte ich etwas vorspielen? Dir? Du kennst mich viel zu gut, um das zu glauben, doch gleichzeitig respektierst Du mich zu sehr um mir das nicht zuzugestehen. Mir? In dem Moment, in dem ich es ausgesprochen habe, habe ich mir auch geglaubt, sah mich als Fels in der Brandung, den nichts zu erschüttern vermag, doch jetzt wünsche ich mir nichts, als dass ich Dir gesagt hätte, was ich mir wünsche, weiß ich doch nur zu gut, dass Du mich auch in diesem Wunsch angenommen hättest. Ich wollte Dir demonstrieren, wie stark ich bin, und das bin ich durchaus, allerdings nur, wenn Du bei mir bist, und Du mir in diesem Wir den Raum schenkst über mich hinauszuwachsen, Raum und Sicherheit ich selbst sein zu dürfen.

Ich hätte viel mehr sagen müssen, wie sehr ich Dich brauche und Deiner Gegenwart bedarf, um glücklich zu sein. Jedes Mal, wenn wir zusammen kommen, ist es, als wäre alles Missliche von gerade eben noch wie ausgelöscht, als würde ich von einem Leben in ein anderes überwechseln. Das eine, das banale, das eben so läuft und funktioniert, ohne besondere Höhen und Tiefen, gleichförmig und unspektakulär, und das andere, das das Wir heißt, in dem ich über mich selbst hinauswachse, in dem ich mich, angespornt durch Deine Liebe, frei bewegen und entfalten kann. Dementsprechend tief ist auch immer der Fall, wenn ich aus dem Wir heraus in das normale Leben wechsele, trist und langweilig erscheint es mir. Alles könnten wir erreichen, alles, und noch viel, viel mehr.

Aber was ist es, was ich erreichen will? Ich weiß, was ich mit Dir erreichen will! Doch was will ich mit mir, für mich erreichen? Habe ich drei Dinge zu erledigen, oder zumindest eines? Nichts habe ich für mich. In Dir will ich, auch das Erreichen!

Natürlich ist es ungerecht, diesem anderen Leben gegenüber, aber ich bin gar nicht bestrebt gerecht, sondern ausschließlich bei Dir zu sein. Ich will natürlich nicht, dass Du das weißt, denn ich würde damit den letzten Rest meiner Souveränität einbüßen. Aber, habe ich das nicht sowieso schon längst? Du bist der Ausgangspunkt und das Ziel meiner Wünsche.

Ich fahre jetzt los und werde ungefähr in zwei Stunden in Dechantskirchen sein. Dort kannst Du mich antreffen, zumindest heute – wenn Du kommst, ist es gut, wenn nicht, ist es auch gut. Aber bitte, komm so schnell wie möglich! Wie lange kann es bloß dauern drei Dinge zu erledigen?

Von der, deren Wünsche Du siegelst.

Hier kommst Du zum zweiten Brief


Entdecke mehr von novels4u.com

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Kommentar verfassen