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Life is too short for boring stories

11. Füreinander da sein

 

Das Wetter hatte umgeschwenkt. Wohl nicht ungewöhnlich zu dieser Zeit des Jahres. Ein plötzlicher Wärmeschub, so dass der Schnee dahinschmolz, als hätte es ihn nie gegeben, und es Wassertropfen anstelle von Schneeflocken vom Himmel herabtrug. Lilith sah aus dem Fenster und in sich selbst. Vor dem Fenster fand sie Regen und graue Wolken und Düsternis, und in ihr fand sie Melancholie und Traurigkeit und Verlorenheit. Dennoch beschloss sie sich zusammen zu reißen, denn sie wollte nicht, dass Ruben von ihr angesteckt wurde, sie wollte nicht, dass er sie so erlebte. Wie sie es von jeher gewohnt war, agierte sie auch an diesem Tag, indem sie sich eine Maske aufsetzte und dahinter alles verbarg, was sich in ihr an negativen Gefühlen aufgestaut hatte. Melancholie und Traurigkeit und Verlorenheit gehörten ganz eindeutig in diese Kategorie. Wenn er da war, dann sollte er nur ihr Lächeln sehen. Nicht ihre Tränen. Wenn er da war, dann sollte er sich wohl fühlen. Und nicht durch sie belastet. Es war nicht gut eine Belastung für andere zu sein. Das gehörte sich definitiv nicht. Und würde sich auch niemals gehören. So war sie froh, dass sie Tee machen konnte für ihn, denn das lenkte die Aufmerksamkeit weg von der Anstrengung die Contenance zu bewahren. Und es war für sie an diesem Tag eine große Anstrengung. Es wollte nicht aufhören zu regnen. Der Himmel blieb grau und düster. Es wollte nicht aufhören in ihr zu arbeiten. Und die Protagonisten des Spieles waren die Traurigkeit und die Melancholie und die Verlorenheit.

 

„Danke für den Tee“, sagte Ruben ohne wirklich von seiner Arbeit aufzublicken.

„Nichts zu danken“, antwortete Lilith lapidar.

„Jetzt ist schon fast Halbzeit im Advent und ich habe das Gefühl, ich komme nicht so voran, wie ich das gerne würde“, merkte Ruben an.

„Das wird sich schon noch ausgehen“, meinte Lilith, als Ruben doch die Hände sinken ließ. Es waren ganz normale Worte, in einem ganz normalen Gespräch, aber irgendetwas ließ ihn aufhorchen. Es waren nicht die Worte. Es war etwas rund um die Worte herum, etwas, das nicht zu Lilith passte, so wie er sie bis jetzt erlebt hatte. Sie saß da, das Buch auf den Schoß, geschlossen und unberührt, die Teetasse in der Hand, während ihr Blick sich im Regen vor dem Fenster verlor.

„Es kommt mir so vor, als wärest Du so verloren, wie die Welt dort draußen gerade wirkt“, hörte Ruben sich sagen, im selben Moment verwundert über sich selbst, wie er solche Worte finden konnte. Waren die wirklich von ihm gekommen? Aber er hatte sie doch gehört, also musste es so sein.

„Nein, nein, das kommt Dir nur so vor“, erklärte Lilith ausweichend, während sie sich an einem Lächeln versuchte, das ihr aber gründlich misslang.

„Du bist aber anders als sonst“, blieb Ruben beharrlich.

„Das kommt Dir vielleicht nur so vor. Das ist bloß der Regen und der graue Himmel. Und es kann ja auch sein, dass ich müde bin und Kopfweh habe“, sagte Lilith, leise, und ihr Blick wollte nicht zu ihm kommen.

„Wenn es sein kann, dann ist es wohl nicht so“, meinte Ruben im Gegenzug, „Aber ich kann Dir nur sagen, dass ich Dir erzählen würde, wenn es mir nicht gut ginge.“

„Das solltest Du auch“, erklärte Lilith mit Überzeugung, „Ich würde es auch sofort merken, wenn dem so wäre.“

„Und warum sollte ich das?“, fragte Ruben weiter.

„Weil wir Freunde sind, dachte ich, und wenn es einem Freund nicht gut geht, dann hilft man sich“, sagte Lilith, so wie sie es sich dachte, und wie sie es wohl auch tun würde.

„Und warum tust Du es dann nicht?“, blieb Ruben unerbittlich.

„Um Dich nicht zu belasten“, gab Lilith nun doch endlich kleinlaut zu.

„Und meinst Du nicht, dass es mich mehr belastet, wenn ich sehe, dass es Dir nicht gut geht, wenn ich es spüre und aus Deiner Stimme höre, und Du versuchst mir vorzumachen, dass ich mich irre, dass ich meinen eigenen Sinnen nicht trauen kann? Würdest Du das wollen?“, fragte Ruben im Gegenzug.

„Ich habe es so gelernt. Und es ist schwer aus Gewohnheiten auszubrechen. Undankbarkeit, hieß es damals, wenn man doch alles hatte was man brauchte, und sich doch nicht wohl fühlte. Das war eine Hybris. Eine Überheblichkeit. Ich versuche das zu verdrängen, versuche mit mir alleine damit klar zu kommen. Ich bin es so gewohnt. Immer konnte ich es verstecken. Nur bei Dir gelingt mir das offenbar nicht. Vielleicht, weil mich noch niemand so wahrgenommen hat wie Du“, sagte Lilith, und nun endlich kehrte ihr Blick zu ihm zurück. Er konnte Tränen sehen in ihren Augen.

„Dann sag mir, was los ist, jetzt endlich“, drängte Ruben.

„Ich fühlte mich so verloren und verlassen, und weiß noch nicht einmal genau warum. Eigentlich dumm. Weil es keinen Grund gibt“, meinte Lilith.

„Es muss nicht immer für alles einen Grund geben. Und wenn Du Dich loslassen willst, dann tu es, ich halte Dich“, sagte er, sanft und nachhaltig. Und die Tränen flossen über ihre Wangen, als er sie in den Arm nahm. Oder nahm er sie in den Arm, und es flossen die Tränen. Das war nicht so genau zu bestimmen. Es machte keinen Unterschied. Er hielt sie. Es fühlte sich gut und warm an. Es war eine Art der Geborgenheit, die sie lange nicht erlebt hatte.

 

Es waren Tränen über ihre Verlassenheit, die sie aus sich hinaus weinte und mit denen ihre Verlassenheit ging. Vielleicht hätte sie öfter geweint, wenn sie das früher gewusst hätte. Es waren aber auch Tränen der Freude, die sie weinte, der Freude darüber, dass da jemand war, der ihr zuhörte, auch wenn es ihr nicht gut ging. Der sie wahrnahm und auch in der Düsternis begleitete, auch wenn er es nicht musste. Es war seine freie Entscheidung zu bleiben und das für sie durchzustehen. Auch das. Er war für sie da. Füreinander da zu sein, ist es nicht das, was das Miteinander ausmacht? Das was das Miteinander eigentlich erst erfüllt? Es ist leicht und luftig, im Sonnenschein und in der Heiterkeit. Es ist schwer und belastend, im Regen und in der Verlorenheit, doch es gehört dazu. Durch den Regen zu gehen oder ihn einfach geschehen lassen, bis der Sonnenschein wiederkehrt. Füreinander da zu sein, weil man sich wünscht, dass das Glück wiederkehrt und die Freude und die Heiterkeit.

 

Und in dieser Umarmung, die nichts weiter war, als eben eine Umarmung, aber in diesem speziellen Moment weit darüber hinausging, ein Rettungsanker wurde und ein Sicherheitsseil. Es war da, und des Abends auch in der Auslage, denn Füreinander da zu sein, das ist es, was ich Dir in meiner Zuwendung schenke. Nirgends sonst kann ich es erfahren.

Hier gehts zu Teil 12

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