12. Ein Ort zu bleiben
„Du bist ohne mich hergekommen?“, fragte Rebekka ohne Umschweife, als sie das leere Geschäft am späten Nachmittag betrat und Samuel ins Visier nahm, „Ich habe Dich überall gesucht.“
„Stell Dir vor, ganz ohne Deine Hilfe, habe ich es geschafft“, erwiderte der Angesprochene ernsthaft, während er würfelte, denn er war gerade an der Reihe zu spielen. Ein einfaches Gesellschaftsspiel. Ein Spiel in Gesellschaft. Ein Miteinander-Tun.
„Ich hätte Dich gar nicht hier vermutet“, fügte Rebekka versunken hinzu.
„Wo hättest Du mich denn vermutet? An welchem Überall hast Du mich gesucht?“, fragte Samuel.
„Bei Deinem Freund, Du weißt, der, dessen Name ich mir nie merke und der in der Klasse neben Dir sitzt“, begann Rebekka ihre Aufzählung, „Und im Shopping-Center und bei Dir zu Hause.“
„Zu Hause? Was meinst Du mit zu Hause?“, fragte Samuel, im Spielen nun doch innehaltend.
„Was ich mit Zu Hause meine? Also manchmal kannst Du ganz schön dumm fragen“, erwiderte Rebekka stirnrunzelnd. Was sollte man denn schon meinen mit Zu Hause? Oder war das bloß wieder so ein Jedes-Wort-auf-die-Waagschale-legen-Ding?
„Meinst Du den Ort, an dem ich schlafe und dusche und esse und meine Hausaufgaben mache?“, fuhr Samuel ungerührt fort, „Den Ort, an dem mein Bett steht und mein Kasten und mein Schreibtisch, an dem ich meine Sachen verwahre, wie in einem Lagerraum, den ich abschließen kann, damit sie nicht gestohlen werden oder sonstwie abhanden kommen? Den Ort, an den ich jeden Tag zurückkehre, weil ich jeden Tag schlafen und essen muss? Oft auch Hausübungen machen? Meinst Du den Ort?“
„Ja, genau den meine ich“, sagte Rebekka entschieden, „Und wo Du isst und duscht und schläfst und Hausübungen machst, das ist Dein Zu Hause.“
„Also wenn ich mich morgen in ein Hotelzimmer einquartiere und dort esse und dusche und schlafe und Hausübungen mache, ist das dann mein Zu Hause?“, fragte Samuel weiter.
„Das kommt darauf an wie lange Du bleibst“, entgegnete Rebekka, ein klein wenig verunsichert.
„Ab welcher Zeitspanne wird dieser Ort ein Zu Hause? Eine Woche? Ein Monat? Ein Jahr?“, blieb Samuel beharrlich.
„Als wenn es die Zeitspanne ausmachen würde. Ein Hotelzimmer bezieht man vorübergehend, normalerweise, wie in einem Urlaub, aber dort, wo man vorhat länger zu bleiben, oder vielleicht auch für immer, das ist ein Zu Hause“, erklärte Rebekka.
„Und wenn ich jetzt sage, dass dieser Ort hier ein Zu Hause sein kann, auch wenn ich hier nicht schlafe, nicht esse, nicht dusche und auch nicht Hausaufgaben mache?“, erwiderte nun Samuel.
„Dann sage ich, dass das Unsinn ist“, sagte Rebekka voller Überzeugung.
„Wo ist Dein Zu Hause?“, erwiderte jedoch Samuel, als hätte er ihren Einwurf gar nicht gehört.
„Du weißt doch genau wo ich Zu Hause bin“, sagte Rebekka kopfschüttelnd. Es hatte den Anschein als hätte er ein wenig den Kopf verloren.
„Du meinst also ganz offensichtlich den Ort, an dem Du wohnst“, blieb Samuel ungerührt, trotzdem er ganz genau zu wissen schien was Rebekka dachte.
„Ja natürlich meine ich den. Was denn sonst?“, erwiderte Rebekka, „Also manchmal kannst Du das Leben ganz schön kompliziert machen!“
„Vielleicht, aber nicht unnötig, denn die Sprache ist nun mal differenziert und um nicht missverstanden zu werden, muss man sich genau ausdrücken“, betete Samuel eine Weisheit herunter, die, so abgedroschen sie auch sein mochte und nicht weniger bekannt, doch gerne in Vergessenheit gerät, „Es ist zweierlei ob ich wo wohne und dort meine Sachen lagere oder ob ich mich dort Zu Hause fühle. Für mich ist Zu Hause ein Ort, an dem ich Ruhe finde, an dem ich mich angenommen und geborgen fühlen kann, ein Ort, an dem ich mich gerne aufhalten will, von dem es mich nicht ständig wegtreibt. Ein Ort zu Bleiben. Das ist Zu Hause.“
„Und an dem Ort, an dem Du wohnst, fühlst Du Dich nicht Zu Hause?“, fragte Rebekka, „So ein großes, tolles Haus, und Du fühlst Dich nicht wohl. Du solltest einmal bei mir wohnen, eine Weile, dann wüsstest Du das zu schätzen. Du hast ein eigenes Badezimmer und ein eigenes Wohnzimmer und ein eigenes Schlafzimmer. Herz, was begehrst Du mehr?“
„Wärme“, war alles was Samuel entgegnete.
„Wärme? Jetzt tu nicht so, als würde bei Euch nicht eingeheizt werden. Wenn ich mich recht erinnere, dann wird sogar zu viel eingeheizt. Deine Mutter friert ja immer und läuft immer in diesen dünnen Sachen herum“, erklärte Rebekka, sich lebhaft an ihren letzten Besuch erinnernd.
„Wärme, die zwischen den Menschen besteht, meinte ich“, sagte Samuel ruhig, „Ja, ich habe alles das, wovon Du sprichst. Und das ist nur dazu da, dass wir uns nicht begegnen müssen. Jeder hat darin seinen eigenen Bereich, und selbst wenn wir alle da sind, können wir uns ganz wunderbar aus dem Weg gehen. Großartig! Das scheint auch beabsichtigt zu sein. Ganz abgesehen davon, dass bei mir sowieso nie jemand anwesend ist. Meine Eltern sind ständig irgendwo unterwegs und wenn sie da sind, dann wollen sie ihre Ruhe haben.“
„Das stimmt, das habe ich auch gespürt“, erwiderte Rebekka nachdenklich, „Heizen hat damit tatsächlich nichts zu tun. Es war eine Kälte und die Frage, wann wir denn bitte endlich gingen, die keiner aussprach, aber immer im Raum stand. Und hier, als wir hierherkamen, da wurden wir, ohne dass ihr etwas von uns wusstet, angenommen und aufgenommen. Ihr habt Euch uns zugewandt und zugehört und uns reden lassen und bleiben lassen. Hier ist es warm und gemütlich. Nicht nur eingeheizt. Hier ist ein Ort zu bleiben.“
„Genau das meinte ich, und deshalb hättest Du mich hier als erst suchen sollen“, entgegnete Samuel lächelnd.
„Und was ist jetzt, darf ich auch mitspielen, wenn ich schon mal da bin?“, fragte Rebekka, die anderen herausfordernd anblickend.
„Natürlich spielst Du mit“, entschied Ruben im Namen aller. So wurde das Spiel neu aufgebaut und sie begannen von vorne, alle miteinander.
Und weil das Miteinander ein wesentlicher Bestandteil ist, dass ein Ort einer ist, an dem Bleiben möglich wird, fand sich an diesem Abend ein Gesellschaftsspiel in der Auslage, als Symbol dieses Miteinander in Tätigkeit, der Verbundenheit. Hier war ein Ort zu Bleiben, als Annahme ohne Wenn und Aber.
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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