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Life is too short for boring stories

Für Dich, der Du mir Offenheit ermöglichst, indem Du mir Geborgenheit schenkst!

Eine wunderbare Nacht! Ich habe herrlich geschlafen, so herrlich tief und fest wie schon lange nicht mehr. Meinem Empfinden nach muss es eine Ewigkeit her sein, dass ich das letzte Mal so tief und fest geschlafen habe – aber vielleicht ist es auch erst, seit ich unterwegs bin auf dieser Reise, die eigentlich unsere sein sollte, die erste Nacht, die ich tief und fest geschlafen habe, weil ich das Gefühl hatte Dich nun endlich wiedergefunden zu haben, obwohl Du nach wie vor nicht da bist, obwohl ich nach wie vor alleine unterwegs bin, habe ich es doch endlich geschafft den Schleier zur Seite zu schieben, der mir den Blick zu Dir verwehrte, und den ich wohl auch selbst aufgehängt hatte.

Ich habe seit einer gefühlten Ewigkeit tief und fest geschlafen, trotz der Aufregung, die sich meiner ob der Erkenntnisse bemächtigte. Zum ersten Mal seit langem konnte mir der neue Tag nicht schnell genug kommen, da ich nun wusste, dass jeder Tag etwas Neues bringen kann, wenn ich bereit bin offen in die Welt hinauszugehen, wenn ich bereit bin zu sehen.

Natürlich begleitete mich auch der Gedanke, dass ich Dir in Udine endlich begegnen würde, der Gedanke und die Hoffnung, dass Du dorthin kämst, doch bisher war dieser Gedanke ein kleiner, ängstlicher und geduckter, und nun war er gewachsen, so groß und anmutig, dass er mich gehend begleitet, und mir gut tat. Es besteht die Möglichkeit, dass wir uns Udine gemeinsam ansehen werden, besteht die Möglichkeit, und wenn die Möglichkeit Realität gewinnt, wäre ich natürlich überglücklich, aber ich lasse mich nicht länger von meinem Unbill beherrschen, sollte es nicht sein, ziehe mich nicht mehr klein und mitleidsvoll in mich zurück, sondern gehe bewusst hinein in den mir geschenkten, neuen Tag. Und dass es ein ungewöhnlicher Tag werden würde, das wusste ich von Beginn an.

Nichts hatte sich äußerlich verändert: Ich wachte in demselben Bett, in demselben Hotelzimmer auf, in dem ich eingeschlafen war, die Sonne schien freundlich, aber gleichgültig durch das Fenster, doch vor allem unverändert. Ich hatte mich gewandelt. Es war, als hätte ich neu zu leben begonnen, an diesem Tag, wie ein Kind, das zum ersten Mal einen neuen Morgen sieht, nur mit dem Unterschied, dass ich wohl schon hunderte davon erlebt hatte, und doch war es wie ein erster, alles verheißender, neuer Tag, so gewohnt in seiner Gleichförmigkeit, eingereiht unter all diese anderen gleichförmigen Tage, und doch einzigartig als er selbst, dieser eine, dieser Tag.

So wie Du und ich, Menschen unter unzähligen anderen Menschen, gleichförmig und einheitlich, doch einzigartig, dieser eine Tag, dieses Du, dieses Ich.

Es begann damit, dass ich nicht, wie es sonst meine Gewohnheit ist, lange schlief, sondern früh aufstand, als würde mir irgendetwas entgehen, an diesem einen, diesen Tag, auch wenn ich nicht zu benennen wusste, was es sein konnte. Aufregung und Neugierde, Spannung – was würde das Leben noch alles für mich bereithalten? Auf jeden Fall war ich wieder da, hier, im Moment bleibend, lebendig, und doch auch bei Dir. Ich muss nicht auf das eine verzichten, um das andere zu erhalten. Ich kann hier sein, und dennoch mich umgeben wissen von Deinen Gedanken. Du musst nicht unbedingt bei mir sein, um bei mir zu sein.

Klingt Dir das zu abstrakt? Ich denke, Du verstehst mich, wie bei so vielem, wo ich mich in einen Knoten hineingedacht hatte, den Du immer wieder mühelos entwirren konntest. Du nahmst es auf Dich, mit Ruhe und Geduld, mich zu entwirren, und brachtest mich mir näher. Ich habe mich wohl noch nie so gut selbst verstanden.

Es gibt neben dem, so vieles, wo Du mich wachsen ließt, und Stück für Stück beginne ich dies zu verstehen. Das wäre mir möglicherweise nicht gelungen, wenn Du da, bei mir gewesen wärst. Und wer weiß, vielleicht hast Du bewusst eine Auszeit eingelegt, um mich zu mir zu zwingen – und zu einem besseren Verstehen. Manchmal muss ich einfach nur einen Schritt zurücktreten, um etwas ganz zu sehen, denn so lange ich mittendrin bin, erkenne ich nur Bruchstücke, und manchmal nicht einmal das, wenn ich zu eng verwoben bin. Du hast mich Dir nähergebracht, indem Du mich von Dir fortschicktest. Zuvor, ohne diese Erfahrung des Abgrundes und der Verzweiflung, hätte ich das wohl nicht verstanden, hätte ich mich bloß schmollend zurückgezogen, weil ich daran nichts verstehen hätte wollen und können, außer dass Du ohne mich sein wolltest, und dabei wolltest Du mir nur ermöglichen mit Dir zu sein. So zumindest nehme ich es jetzt an, so wie ich Dich annehme.

Ich fuhr mit offenen Augen und offenem Herzen von Fürnitz nach Udine, kam gegen Mittag an, und nachdem ich die lästige Aufgabe eine Unterkunft für diese Nacht zu finden erledigt hatte, begab ich mich auf einen Rundgang durch die Stadt. Ich weiß nicht, ob die Menschen in dieser Stadt anders sind als woanders, aber wahrscheinlicher ist es doch wohl, dass ich mich verändert hatte, oder besser gesagt, dass mich die Erfahrungen dieser letzten Tage verändert hatten. Ich denke, ich strahlte es aus, diese Aufbruchsstimmung, diese Offenheit, die Du mir ermöglichtest, denn die Menschen kamen auf mich zu und es geschahen etliche kleine Begegnungen. Nichts Aufregendes, aber hier und da eine Anregung oder eine Ermutigung, und wenn es nur darum ging sich darüber einig zu sein, dass es ein wunderschöner Tag war. Nichts weiter, und doch so etwas wie ein kleines Einverständnis, Freude, der ich Ausdruck verleihe, und damit weitertrage und weiterschenke.

Natürlich dachte ich nach wie vor wie schön es wäre, wenn Du jetzt mit mir durch diese Straßen flanieren würdest, wenn ich Dir von meinen Eindrücken erzählen könnte, so wie Du mir von Deinen, sozusagen vor Ort, wie schön es wäre, wenn Du nun endlich Deine drei Dinge erledigt hättest und zu mir kämst, wenn Du diesen Moment der Lebendigkeit und Offenheit mit mir teilen könntest.

Ich besuchte den Schlosskomplex, besichtigte – bewusst in dieser Reihenfolge – das Archäologiemuseum, die Galerie antiker Kunst und zum Abschluss die Galerie moderner Künste. Egal wie unterschiedlich die Ausstellungsstücke und die Ausrichtung wohl sein mochten, eines verband dies alles, beginnend bei meinem Stadtrundgang – in allem hatten Menschen Spuren hinterlassen, hatten ihre Gedanken und Anliegen künstlerisch dargestellt, hatten Gebäude errichtet, verändert und wieder abgerissen, Gebäude, in denen sie Heimat gefunden hatten, wo Menschen geboren wurden, aufwuchsen, lebten, und auch wieder starben. Überall, in all diesen Arbeiten war der Wunsch zu leben zu spüren, Orte des Rückzugs und der Offenheit, Rückzug, um nicht in der radikalen Haltlosigkeit der totalen Offenheit verloren zu gehen, denn der Mensch braucht einen Fixpunkt in seinem Leben und Vertrauen ins Leben, um den Mut zu finden nach außen zu gehen und für die Möglichkeiten und Angebote des Lebens offen zu sein.

Dieser Rückzug muss nicht unbedingt ein Ort sein – mein Rückzug bist Du. So lange ich mich von und in Dir aufgenommen weiß, habe ich den Mut hinauszugehen, die Welt zu erleben.

Ist Dir schon einmal aufgefallen, dass Menschen, die zu zweit unterwegs sind, zumeist viel verschlossener sind, als diejenigen, die alleine reisen, als wären sie sich selbst genug, als würde es ihrer Beziehung genügen in sich selbst zu verweilen. Vielleicht ist es am Beginn noch verständlich, wenn die beiden noch nichts voneinander wissen, wenn sie suchen den anderen zu verstehen und sich dem anderen zu verstehen zu geben – doch irgendwann vertrocknet diese Zweier-Beziehung, wenn sie sich der Welt verschließt und keine neuen Eindrücke mehr an sich heranlässt, trocknet die Beziehung aus, und irgendwann wundern sie sich, dass sie sich nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu geben haben, weil sich die Beziehung schlicht und ergreifend verbraucht hat. Wenn ich Dir wirklich Heimat sein will, wenn ich Dir ein Ort zur Rückkunft und Wiederkehr, einer freudigen Rückkunft und Wiederkehr, sein will, dann muss ich Dich gehen lassen können. Wenn ich Dich festhalte, wenn ich Dich an mich binde und meine Kraft darauf verschwende, Dich eifersüchtig zu überwachen und alles, was Du sagst und tust mit mir in Zusammenhang zu bringen, dann bin ich auf dem besten Weg Dich zu ersticken.

Liebe, wo sie recht verstanden ist, bindet nicht, sondern setzt frei und will Deine Entscheidung Tag um Tag, Moment um Moment aufs Neue. Liebe, wo sie lebendig verstanden ist, bietet Dir den Nährboden, aus dem Du wachsen kannst, bietet Dir die Wärme, die Dich kräftigt und schenkt Dir Luft zu atmen.

Wie lange, ach allzu lange habe ich das nicht verstanden, habe ich Dich vereinnahmt, wie eine Sache, die mir gehört, habe mich geweigert an Deinem Leben außerhalb unseres Wir teilzunehmen, Anteil zu nehmen, und damit habe ich mich eigentlich Dir verweigert, verweigert an Dir teilzunehmen, an Dir Anteil zu nehmen. Vielleicht ist es schon zu spät. Vielleicht aber auch hast Du mich nur weggeschickt, um mich dies entdecken zu lassen.

Ganz gleich ob Du nun wirklich drei Dinge zu erledigen gehabt hattest oder nicht, ob Du mich auf eine Reise zu mir selbst und damit zu uns fahren ließt, oder Du mich gänzlich von Dir fortgeschickt hast, ganz gleich was dieser oder jeder weitere Tag bringt, ich bin offen für Deine Wiederkehr, offen Dir die Hand zu reichen, miteinander weiter ein Stück des Weges zu gehen. Du findest mich, wenn Du es willst, heute noch in Udine und morgen in Portobuffalé.

Von der, der Du Offenheit ermöglichst, indem Du mir Geborgenheit schenkst.

Hier geht es um achten Brief.


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