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Life is too short for boring stories

Für Dich, der Du in mir die Neugierde weckst, indem Du nicht abläßt zu hinterfragen!

Es gibt wohl etwas, was ich bis jetzt unerwähnt ließ, und was mir damit offenbar bisher nicht der Erwähnung wert schien, doch diesmal ist es das. Ich habe, wie Du bereits weißt, in Udine genächtigt. Und wie ich bereits bei vielen anderen Gelegenheiten feststellen konnte, ist es nicht schlecht sich vom Schicksal oder Zufall – wie auch immer Du es nennen willst – an der Hand nehmen und führen zu lassen. Ich ließ mich also führen und blieb bei einer kleinen Pension stehen, die mitten in einer hügeligen Landschaft etwas außerhalb von Udine lag. „Hier,“, dachte ich, „hier werde ich die Nacht verbringen.“ Ich hätte Dir nicht sagen können warum gerade hier. Dieses eher bescheidene Haus, wirkte auf mich warm und einladend. Die Pension wurde von einer älteren Dame geführt, deren Augen sanft und gütig wirkten, abgeklärt durch die Erfahrungen eines langen, mehrere Jahrzehnte umspannenden Lebens. Hier, so hatte ich den Eindruck, hier war ich nicht nur Gast, hier wurde ich wirklich aufgenommen.

Beim Frühstück nun ergab es sich, dass ich mit der Dame des Hauses ins Plaudern kam. Ich erzählte ihr von meiner Reise, vom ersten Tag an bis zu diesem Morgen. „Du bist schon sehr viel weitergekommen, als Du vielleicht selbst verstehst, sehr viel weiter, als manch anderer auf seiner Lebensreise kommt“, stellte sie lapidar fest, als meine Erzählung endete, und wenn ich mir nun erstmals gestattete, diese wenigen Tage in meinem Kopf Revue passieren zu lassen, so musste ich zugeben, dass sie recht hatte.

Wir verwenden so viel Zeit darauf beruflich oder finanziell oder sozial weiterzukommen, dass uns keine Zeit mehr für Dinge bleibt, die uns als Menschen wachsen und reifen lassen. Und wie, als wenn sie meine Gedanken hätte lesen können, fuhr sie fort.

„Ich habe wohl mein ganzes Leben, und das umspannt mittlerweile über sieben Jahrzehnte, hier in diesem Haus verbracht, in aller Freiheit und Unabhängigkeit, die einem Menschen wohl möglich ist. Ich habe während dieser vielen Jahre, vorzugsweise durch die Pension, das Glück gehabt, den unterschiedlichsten Menschen zu begegnen. Viele davon verloren sich wohl recht bald wieder, aus anderen, wenigen, wiederum nahm ich vieles mit, und eine einzige darunter hat mein ganzes Leben gefesselt und geprägt.“

Spätestens an dieser Stelle hatte sie mich in ihre Erzählung hineingeholt, die so klar und sachlich klang, und doch sie selbst mitzuteilen versprach. „Ich würde gerne mehr davon erfahren“, bat ich sie, und sie ließ sich auch nicht lange bitten.

„Ich war damals ein sehr junges Ding, ziemlich naiv und unerfahren, wie mein seliger Vater zu sagen pflegte, aber ich verstand es dem Leben und allem, was sich mir bot, offen gegenüber zu stehen, offen und voller Neugierde. So kam es, dass ich an einem schönen, sonnigen Maitag auf der Wiese hinter dem Haus saß und Körbe flocht. In diesem Moment kam ein junger Mann, im gleichen Alter, wie sich späterhin herausstellen sollte, über eben diese Wiese. Er kam geradewegs auf mich zu, doch im Gegensatz zu mir, nahm er das blühende Leben rund um ihn herum nicht nur nicht wahr, vielmehr schien er tief in fernen Gedanken versunken zu sein, so tief und nachhaltig, dass er meine Körbe übersah, die dort im Gras standen, und darüber stolperte. Erst dieser Sturz brachte ihn zurück in die Wirklichkeit. Ich half ihm auf und nötigte ihn sich zu mir zu setzen.

‚Wo bist Du?‘, frage ich ihn geradeheraus. ‚Da bin ich‘, gab er lapidar zurück. ‚Ja‘, antwortete ich lachend, ‚körperlich vielleicht, aber Deine Gedanken sind ganz weit weg, also bist Du nicht da.‘ ‚Du hast recht., gab er zu, und sah mich zum ersten Mal wirklich an. Was mir als allererst an ihm auffiel, waren seine warmen, blauen Augen, blau wie der schönste Frühlingshimmel über der Toskana, und es waren wohl seine Augen wie seine Verlorenheit, die mich in diesem Moment für ihn einnahmen und mich dazu brachten mich ihm zuzuwenden. ‚Ich bin weit weg, und das. obwohl ich nicht weg will von hier., fuhr er fort.

Daraufhin erzählte er mir, dass er Architekt sei und nun einen Auftrag bekommen hatte, von dem er eigentlich immer schon geträumt hatte, der ihn allerdings weit weg führen würde von seiner Heimat, in ein Land, dessen Namen ich vergessen habe und der auch nichts zur Sache tut, weg von hier, in die Fremde, und das wohl für sehr, sehr lange Zeit. Er könnte sein Glück machen, sich und seine Träume darin verwirklichen, aber er hatte Angst wegzugehen, Angst alles hinter sich zu lassen, und wenn er nach langer Zeit wieder kommen sollte, hätte er letztendlich durch die lange Abwesenheit auch seine Heimat verloren. Das waren die Gedanken, die ihn umtrieben und nicht zur Ruhe kommen ließen. Ich hörte mir seine Erzählung an, und meinte dann:

‚Wer Dich im Herzen trägt, der wird Dich nicht verlieren, und wer Dich verliert, hat Dich nicht im Herzen getragen.‘

Daraufhin schwieg er für einige Zeit, doch ich spürte, dass er langsam zurückkam. ‚Es ist wie mit Deinen Körben‘, sagte er sinnend, ‚Diese Weidenruten, wenn sie so umherliegen und nicht aufeinander wirken, sind eben nichts weiter als ein paar Weidenruten, die herumliegen, doch wenn Du sie mit Deinen geschickten Fingern ineinander flechtest, so ergeben sie ein Ganzes, ein Gefäß, das wir beladen können und das die Last hält, indem es sie verteilt. So sollte es bei den Menschen sein. Wer miteinander verbunden ist, teilt die Last.‘

Wie recht er doch hatte. ‚Ich danke Dir. Ich werde gehen, und jetzt, wo ich mit Dir gesprochen habe, werde ich leichten Herzens gehen‘, und er war schon aufgestanden, hatte sich wohl auch schon einige Schritte von mir entfernt, als er sich offenbar nochmals besann und zu mir zurückkam:  ‚Wirst Du da sein, wenn ich wiederkomme?‘, fragte er. ‚Ja, ich werde da sein‘, gab ich zurück, und ich war da, denn er hatte mein Herz berührt, wie niemand zuvor und niemand mehr danach. Er war dann zehn Jahre weg, und nachdem dazwischen auch noch dieser komische Krieg war, hörte ich viele Jahre nichts von ihm, kein Brief, kein Telegramm, nichts. Aber ich hörte ihn in mir. Die Menschen um mich herum, selbst die, die mir eigentlich sehr nahestanden, meinten, ich sollte es lassen, mit der Warterei, meinten, dass er sowieso nicht wiederkäme, und vor allem, warum auch, auf diese eine, kleine Begegnung hinauf. Wahrscheinlich hatte er sein Glück gemacht, und würde gar nicht mehr an mich denken. Doch ich wusste es besser, denn ich hörte ihn in mir, hörte, ob es ihm gut ginge oder nicht, doch vor allem, dass er sein Versprechen einlösen und wiederkommen würde. Und er kam tatsächlich zurück. Wir fanden uns und blieben zusammen, doch das gemeinsame Glück sollte nur zehn Jahre dauern, dann starb er. Zehn Jahre warten gegen zehn Jahre Glück – das war doch nicht unfair, und wer weiß wie viele Menschen so etwas überhaupt nicht erleben dürfen, eine solch innige Verbundenheit, und so wie es damals war, bin ich es heute noch.

Und nun zu Dir, Mädchen: Ich habe Dir das alles erzählt, weil ich spüre, dass Du offen bist für die Wunder des Lebens, aber vor allem, weil ich merke, dass Du schwankst. In Deinem Leben gibt es jemanden, der Dein Herz angerührt hat, Du Dich aber in der Gefahr befindest Dich von Angst und Unsicherheit begraben zu lassen.“

Sie hatte recht. Ich war auf dem besten Weg gewesen mir selbst das Beste in meinem Leben zu nehmen. „Wenn Du Deine Reise beendet hast,“, setzte sie hinzu, „dann komm wieder.“ „Ja, das werde ich.“, antwortete ich sinnend. Ich werde es tun, wenn ich meine Reise beendet habe, ganz gleich wo sie letztlich endet. Offenheit und Neugierde, das ist es, was ich Dir verspreche, was ich Dir versprechen kann, für Dich und Dein Sein.

Ich fuhr weiter nach Portobuffalé, quartierte mich ein und entdeckte dieses malerische, kleine Städtchen für mich. Die Neugierde trieb mich. Was sich wohl hinter dieser Säule, hinter dieser Ecke versteckt haben mag? Meine Reise war zu einer richtigen Entdeckungsfahrt geworden, und ich freute mich wie ein Kind an diesen Entdeckungen.

Offenheit und Neugierde – was sich wohl noch in Dir alles verbirgt, was ich noch nicht entdeckt habe? Was würdest Du mir von dem erzählen, was Du diese Tage erlebt hast?

Ja, ängstlich und klein war ich bisher gewesen, doch nun war ich aufgestanden, hatte mich groß und weit gemacht, und freute mich in einer Art auf Dich, auf die ich mich noch nie auf Dich gefreut hatte, auf eine Art, die nicht bedeutete, dass Du mich irgendwo aufliest, verloren und verlassen, sondern eine Art, die Dir ein Ankommen bei mir erst wirklich ermöglicht. Ich will nicht mehr länger fragen wann oder wo, und schon gar nicht ob überhaupt, nein, es würde sein, irgendwann, irgendwo, denn Du, Du hattest mein Herz berührt, hattest mich im Innersten ergriffen und zu Dir geholt. Diese Erfahrung ist unüberwindlich und unhintergehbar. Du hast Deinen Namen in mich gebrannt und mir die Augen geöffnet, für Dich und damit für die Welt, denn wo die Menschen miteinander wirken, vermögen sie die Last miteinander zu tragen, und es wird ihnen leicht sein.

Ich durchstreifte die Straßen, bis es Abend wurde, bis es Nacht wurde und sich über mir ein sternenklarer Himmel wölbte. So wie ich noch vor wenigen Tagen in mir verloren, alles verloren wähnte, so hatte ich mich wiedergewonnen, um alles als möglich zu erachten, auch Deine Rückkehr zu mir.

Diese Erzählung, die mir so nebenbei passiert war, passiert, weil ich neugierig und offen war, ließ mich nicht los, denn sie hatte mir Mut gemacht. Ich hatte erfahren dürfen, dass es möglich ist, zu schenken, ohne Wenn und Aber, dass es richtig ist, die Stimme in sich wahrzunehmen, klingen zu lassen und auch anzunehmen. Es ist möglich, auch die Liebe.

Ich schicke einen Gruß zu den Sternen, und hoffe, dass er bei Dir ankommt, dass er den Weg zu Dir findet, so wie ich hoffe, dass Du den Weg zu mir findest.

Diese eine Nacht würde ich noch in Portofuffalè verbringen, und morgen schon würde ich in Venedig sein. Ein weiterer Tag ohne Dich, und dennoch mit dem Empfinden verbunden mich Dir noch selten so nahe gefühlt zu haben, eine weitere Nacht ohne Dich, um mich doch von Dir gehalten zu wissen. Es ist gut, wie es ist.

Von der, deren Neugierde Du bist.

Hier geht es zum neunten Brief.


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