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Life is too short for boring stories

In der vergangenen Nacht wurde der alte Dorfschullehrer erschlagen. Heute morgen fanden ihn die Kinder in seinem kleinen Zimmer, das an die Schule angebaut worden war, als er zurückkam, der verlorene Sohn, in diesen kleinen Ort ca. 80 km entfernt von Barcelona, malerisch gelegenen in den Bergen Katalaniens. Nein, er war nie wirklich verloren. Aber er war zu viel für das kleine Dorf, dessen Bewohner*innen von den Olivenhainen lebten. Seit jeher. Er war der erste, der auszog, um eine höhere Schule zu besuchen. Danach studierte er auf der Universität. Alle hatten zusammengelegt, um ihm das zu ermöglichen. „Er ist ein guter Junge“, hatten sie gesagt, als sie Javiers Vater auf die Schulter klopften, der das gar nicht annehmen wollte. Nach dem Studium der Pädagogik wurde er angstellt an der Universität. Zunächst als Dozent. Dann als Professor. Doch er hatte sich innerlich leer gefühlt.

Eines Tages, als er einen seiner häufigen Spaziergänge durch die katalanische Hauptstadt gemacht hatte, hatte er zufällig ein Schild mit der Aufschrift „Escuela Moderna“ gelesen. Ja, er hatte bereits gehört von Francisco Ferrer und seinem neuen pädagogischen Ansatz, nur auseinandergesetzt hatte er sich noch nicht damit. Er hatte Angst davor, Angst, dass er etwas sehen und hören würde, was seine ganze bisherige Ausbildung und Lehrtätigkeit in Frage stellen würde. Er hatte es dennoch gewagt, durch den schmalen Gang zu gehen, um das Klassenzimmer zu betreten. Und es war ein Umsturz gewesen, doch es war einer, der die verkrusteteten Strukturen zum Einsturz gebracht hatte, um für Neues Platz zu machen. Wenige Tage später war er in sein Heimatdorf zurückgekehrt.

„Ich möchte Euer Dorfschullehrer sein“, hatte er nach seiner Ankunft gesagt. Zunächst hatte Stille geherrscht in dem Versammlungssaal. Alle waren froh gewesen, dass Javier wieder nach Hause zurückgekehrt war, auch zu hören, dass er es so weit im Leben gebracht hatte, aber dann das.
„Aber wir können Dich nicht bezahlen“, hatte einer erwidert.
„Ich brauche nicht viel. Ihr werdet sehen, es ist viel weniger, als ihr bisher an die Lehrer zahlen musstet“, hatte Javier geantwortet.
„Warum tust Du das? Du hast Deinen tollen Posten an der Universität und all die Studien und dann willst Du Dich mit so etwas abgeben?“, hatte eine Frau gefragt.
„Weil es jedes Kind verdient hat, eine gute Bildung zu bekommen, denn die Unwissenheit hilft den Unterdrückern. Und sie sollten die besten Lehrer bekommen. Ich will Euch auch zurückgeben, was ihr mir schenktet. Ich möchte, diesen Kindern eine Freiheit ermöglichen, die sie sonst nicht hätten. Aber nicht nur den Kindern. Alle können bei mir Lesen und Schreiben lernen, die das wollen“, hatte er erklärt. Es wurde mit großem Jubel, wenn auch mit Unglauben hingenommen. So wurde neben dem Klassenzimmer, dem einzigen, weil mehr brauchte es nicht, ein Raum gebaut, in dem Javier leben konnte. Er war tatsächlich genügsam und bescheiden. Die Menschen, die großen wie die kleinen, zeigten sich angetan von seiner Art die Talente und Fähigkeiten jedes Einzelnen ans Licht zu fördern. Es war eine Freude zu lernen. Dabei wirkte es meiste Zeit nicht nach lernen. Javier war viel mit den Kindern draußen in der Natur. So vieles ließ sich hier veranschaulichen. Er beförderte das eigenständige Denken und die Eigeninitiative. Alles Dogmatische wurde ausgeblendet. Alles, was er einforderte, war ein respektvoller Umgang im Miteinander. Seine Botschaft war durchaus politisch, im Klassenzimmer und auch darüber hinaus. Er half mit bei der Aneignung der Gründe durch die Bauern und dem Kauf einer eigenen Mühle, um das Olivenöl selbst zu pressen. Sie wurde in der ehemaligen Kirche aufgestellt, denn wer selbst denkt und für sich sorgt, braucht keine Religion. Rasch sprach sich die Botschaft von der Vertreibung des Großgrundbesitzers und des Pfaffen herum. Andere Orte folgten ihrem Beispiel und ein reger Handel begann zu blühen. Die Menschen waren eigenständig. Sie brauchten keine Obrigkeit, weder wirtschaftlich noch staatlich noch kirchlich. Das erregte großen Unmut. Deshalb schickten sie in der Nacht ihre Schergen, um den Dorfschullehrer zu erschlagen. Sie trauerten um Javier, ihren Dorfschullehrer, doch an der erlebten Freiheit konnte auch das nichts mehr ändern. Niemals mehr würde es geschehen, dass sie sich dem Despotismus unterwarfen. Und eine junge Frau, Javiers Schülerin, übernahm seinen Platz, seine Botschaft weiterzutragen und zu verbreiten.


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