Ein alter Mann meint, einem jungen Mädchen Ratschläge geben zu dürfen, ohne darum gebeten worden zu sein.

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Life is too short for boring stories

„Wenn ich Dir einen Rat geben darf …“, begann der Herr im Anzug, ein gepflegter Mittfünfziger mit ergrauten Haaren an den Schläfen und einem unübersehbaren Wohlstandsbauch, unaufgefordert ein Gespräch mit einem jungen Mädchen. Sie war wohl schon Mitte zwanzig, doch für ihn war das durchaus jung. Jedenfalls jung genug, um zu meinen, er könne sich derart väterlich gebärden, wobei seine Absichten wohl alles andere als das waren. Er hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, den Ehering vom Finger zu ziehen, damit die Kleine, wie er sie insgeheim betitelte, von vornherein wusste, wo sie stand, wenn sie sich auf ihn einließ. Dass sie sich auf ihn einlassen würde, stand für ihn außer Frage. Schließlich hatte er schon das eine oder andere Mal, Erfolg mit dieser Masche gehabt. Er war immer noch ein Hengst, einer, der die Mädchen glücklich machen konnte, zumindest mit pharmazeutischer Unterstützung. Und das ein oder andere kleine Geschenk schadete auch nicht unbedingt.  

Die Angesprochene, eine zarte Person mit langen blonden Haaren und sanften blauen Augen, schlank, aber nichtsdestotrotz wohlproportioniert, wandte sich zu ihm um und musterte ihn von unten bis oben. Sie erkannte, dass der Anzug, den er trug, teuer sein musste, die Rolex ebenso, so protzig und aufwändig und natürlich die Krokolederschuhe, bei deren Anblick sie sich unwillkürlich schüttelte. Doch das war nicht alles, was ihr gleich im ersten Moment klar wurde. Dieser Mann hatte sie bereits kategorisiert, mit einem Blick, hineingepackt in die Kategorie, blondes, dummes Püppchen, das sich geschmeichelt fühlt, wenn ein wohlsituierter Herr ihr Avancen machte. Für manche war es ein Traum, zumindest ein kleiner, in ein edles Restaurant ausgeführt zu werden und andere teure Annehmlichkeiten zu genießen. Doch Sophie, so hieß sie, passte dort ganz und gar nicht hinein. Dennoch fand sie es interessant und spielte auch gerne mit dem, was sie vermittelte bzw. wie ihre Person wahrgenommen wurde. Das war auch der Grund, warum sie Soziologie studierte. Sie wollte die Menschen besser verstehen bzw. deren Umgang im sozialen Umfeld. „Nun, dann werde ich einmal ein wenig Dein Weltbild durcheinanderbringen“, dachte Sophie.  

„Wenn ich Dir einen Rat geben darf …“, hatte er gesagt und natürlich war der Satz noch nicht zu Ende. Dessen war sich Sophie durchaus bewusst, dennoch wartete sie den Moment ab, in dem er nach dem Wort „darf“ Luft holte, um ungeniert einzuwerfen: „Nein, darfst Du nicht.“ Irritiert sah er sie an. „Aber ich habe doch noch gar nicht gesagt, was für einen Rat ich Dir geben möchte“, meinte er stirnrunzelnd. „Es genügte schon, dass Du sagtest ‚Wenn ich Dir einen Rat geben darf‘.“, erklärte Sophie, „Wenn es Dir wirklich darum gegangen wäre, mich zu fragen, ob Du mir einen Rat geben darfst, dann hättest Du die entsprechende Frage gestellt, aber so wie Du es formuliertest, bist Du davon ausgegangen, dass ich auf jeden Fall zustimme, dass Du mir einen Rat – welchen auch immer – geben darfst. Zumindest hast Du gesagt ‚Wenn‘, d.h. ich hatte durchaus die Möglichkeit zu verneinen. Wenn, dann ist die Zusammengehörigkeit. Also, wenn Du mir einen Rat geben darfst, dann – und dann wäre der Rat gekommen, welcher auch immer, der mich aber auf jeden Fall nicht interessiert, denn nur, weil Du alt bist, also augenscheinlich viel älter als ich und noch dazu ein erfolgreicher Mann, wenn man von den Äußerlichkeiten auf Erfolg schließen kann, denn es könnte ja sein, dass Du nur reich geheiratet hast und Deine Frau Dich finanziell an der Kantare hat, so dass Du ab und zu den jovialen, älteren Herrn mimen musst und an unbedarfte, blonde Mädchen Ratschläge erteilen musst, die mithelfen, dass sie direkt oder auch indirekt, in Dein Bett steigen. Aber wenn ich einen Rat von Dir möchte, was auch immer betreffend, würde ich Dich fragen. Dann und nur dann bin ich daran interessiert. Ich hoffe, Du hast mich verstanden.“ Der Herr in Anzug hatte zwar nicht ganz verstanden, soviel allerdings, dass er wohl bei diesem Mädchen nicht viele Chancen haben würde, deshalb verlegte er sich zunächst auf einen Gegenangriff. „Wie kommst Du dazu, mich zu duzen? Ich könnte Dein Vater sein, zeig einmal ein bisschen Respekt“, erklärte er deshalb, sich quasi an den letzten Strohhalm klammernd. „Weil Du es mit aller Selbstverständlichkeit auch getan hast. Zeig einem Mädchen, das so alt ist, dass sie Deine Tochter sein könnte, doch wie das geht, mit dem Respekt“, erwiderte Sophie amüsiert. Dann sagte er nichts mehr, wandte sich um und ging davon, während sich Sophie wieder ihrem Getränk zuwandte.  

Kurz überlegte sie, ob sie nicht doch zu harsch mit ihm umgegangen war, als sie in der Nähe den Satz vernahm: „Wenn ich Dir einen Rat geben darf …“. Offenbar hatte er bereits ein neues Opfer gefunden. Sie wandte sich um und erkannte, dass er bei seinem Beuteschema geblieben war, zumindest was das Äußere betraf. Und er schien diesmal Erfolg zu haben, denn sie waren bereits in ein Gespräch vertieft. Immerhin, er war nachhaltig, das musste sie ihm zugestehen. Letztlich gehören immer zwei dazu, einer, der es tut und eine, die es sich gefallen lässt, auch ungefragt Ratschläge von alten Männern zu bekommen.


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