novels4u.com

Der dritte Abend, der dem Spanischen Bürgerkrieg gewidmet war, fand wieder zahlreiche Zuhörerinnen. Gerade als es beginnen sollte, schlurfte ein Mann herein, der sofort ins Auge fiel. Seine Kleidung wirkte alt und schäbig. Eine verwaschene Jean und ein aus der Form geratenes T-Shirt trugen zu diesem Eindruck bei. Die Haare standen im kreuz und quer vom Kopf, als wären sie seit sehr langer Zeit mit keiner Bürste in Berührung gekommen. Mit einem Wort, er war äußerlich das genaue Gegenteil der jungen, adretten Studenten. Mit seinen rund 50 Jahren waren er auch noch ungefähr doppelt so alt wie die beiden. Lisa grüßte ihn höflich, während alle anderen dezent von ihm abrückten, als er in der letzten Reihe Platz nahm. „Wir können gespannt sein“, dachte Lisa. Dann begann der Vortrag, der Lisas Erwartungen gar noch übertrag, vor allem, als sie mit den Worten schlossen: „Das Inkompetenz und die völlig unzureichende ideologische Grundlage, die der Linken attestiert werden kann, führte zum großen Sieg des imposanten General Franco.“

Lisa musste sich sehr zusammenreißen, um nicht stimmgewaltig gegen einen solchen Unsinn aufzutreten, doch es zeigte sich als unnötig, denn es war der Moment, in dem der unbekannte Mann aufstand und das Wort ergriff. „Danke für diesen Vortrag“, begann er. Seine Stimme war tief und raumfüllend, eine, der man gerne zuhörte, „Ich bin sehr froh darüber, hier gewesen zu sein, denn wenn dies, was Sie hier zu Gehör gebracht haben, das ist, was auf der Universität gelehrt wird, müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen. Die Aneinanderreihung der Daten und Fakten war völlig richtig. Da haben Sie gut aufgepasst. Allerdings ist das etwas, was jeder halbwegs gute Schüler zustande bringen würde, zumal es mittlerweile großartige Zusammenfassungen der Ereignisse gibt. Was Sie allerdings gänzlich unter den Tisch fallen ließen, waren die Gründe, die zu diesem Bürgerkrieg führten, die Fehler, die von beiden Seiten, wohlgemerkt, begangen wurden und deren ideologische Hintergründe und das Fazit, das daraus zu ziehen ist unter Betrachtung der Hintergründe. Und das wäre es eigentlich, was einen universitär gebildeten Menschen von einem unterscheidet, der sich nur oberflächlich über ein Thema informiert“, meinte dieser und man merkte, wie die beiden schönen Burschen verfielen, an Glanz und Anziehungskraft verloren, während der Mann, bei dem man zunächst nur die Schäbigkeit und das unvorteilhafte Äußere, gesehen hatte, zusehends an Zuspruch gewann. Es war als würde ein Feuer in ihm lodern, das Feuer des Eifers den Dingen auf den Grund zu gehen und andere dabei mitzunehmen, sie in den Gang seiner Gedanken einzubeziehen. Das Bild, das er im Anschluss von der spanischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jhdt. zeichnete, war anschaulich und bewegend. Bald hing der ganze Saal an seinen Lippen und folgten seiner genauen, durchdachten Analyse. Es war, als würde plötzlich ein anderer Mensch vor ihnen stehen. „Wie sehr wir uns doch von Äußerlichkeiten blenden und vereinnahmen lassen“, dachte Lisa kopfschüttelnd, aber die Menschen erkannten dennoch, bei sich zuzuhören lohnte und bei wem es eher angebracht war, sich nicht zu sehr auf das einzulassen, was sie sagten. Nachdem der Unbekannte, den Lisa zuletzt als Prof. Werdenich, der einen Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit innehatte, vorstellte, geendet hatte, entspann sich eine sehr angeregte und interessante Diskussion. Niemand war aufgefallen, dass Tim und Tom, denen niemand mehr Beachtung geschenkt hatte, schon längst den Saal verlassen hatten. Niemand? Ganz stimmte das nicht, denn ein paar unerschütterliche Fans, darunter auch Lisas Freundin Marin, waren demonstrativ mit ihnen gegangen, fest entschlossen, einen Ort zu finden, an dem das gewürdigt wurde, was wirklich zählt im Leben, ihre Schönheit. Den würden sie auch finden, denn Marin war sicher nicht die Einzige, die sich von dieser blenden ließ. Zum Glück gab es auch die anderen, die Kompetenz erkannten und anerkannten, wenn sie diese sahen und ja, es zahlt sich aus, von dieser Oberflächlichkeit wegzukommen und den Menschen abseits von Normierungen zu sehen, denn es ist faszinierend, was man da entdecken kann.