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Life is too short for boring stories

17. Berühre meine Seele

 

So vielen Menschen begegnen wir, jeden Tag. Es müssen wohl Tausende sein, über die Zeit, die Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte hinweg. Die meisten gehen vorüber. Es ist kein begegnen. Es ist ein Vorüber. Manchmal stoßen wir zusammen. Es ist kein begegnen. Es ist ein Versehen. Manchen werden wir vorgestellt, stellen wir uns vor. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Es ist kein begegnen. Es ist eine Aussicht, denn es kann eines werden. Und ganz selten werden wir mit jemandem zusammengeführt, der nicht nur kurz anhält, sondern innehält, nicht nur einen flüchtigen Blick macht, sondern ein Ansehen riskiert, das mehr verrät, mehr offenlegt, als bei einem anderen Zusammentreffen ratsam wäre. Es ist eine Begegnung, die berührt, mehr als die Haut, unter die Haut, bis ins Innerste, das uns veranlasst uns zu öffnen. Auf nichts weiter bauend, als auf die Hoffnung, dass die Berührung eine achtsame bleibt, denn die Hand, die berührt, kann streicheln oder zupacken, heilen oder verletzen. Wenn sie die Möglichkeit haben. Im Offenlegen geben wir die Möglichkeit. Wir vertrauen uns der Berührung an. Wir geben uns anheim. Es ist gut. Es kann gut sein. Du hast es in der Hand.

„Was ist es, was unsere Schritte lenkt?“, fragte Ruben, da er Lilith gegenüber saß, ihre Hände in den seinen.

„Wir meinen immer, dass wir es selbst sind, aber es ist eine Illusion“, meinte Lilith nachdenklich.

„Vielleicht nicht nur, aber auch. Ganz möchte ich doch nicht lassen von der Idee des freien Willens und der sinnvollen eigenen bewussten Entscheidung, zumindest nicht ganz“, meinte Ruben.

„Im Nachhinein gibt es immer eine Erklärung. Aber gibt es die auch im Moment, in dem wir unsere Schritte setzen“, meinte Lilith, „Sicher, es gibt immer etwas wo wir hingehen müssen. Zu einer Verabredung, die wir vereinbart haben. Zu einem Termin, den wir festgelegt haben. Aber dann gibt es auch die Wege, die wir nicht vorhersehen. Einen Spaziergang, bei dem wir spontan entscheiden oder über uns entscheiden lassen, dass wir nicht den Weg einschlagen, den wir immer einschlagen, sondern einmal einen neuen ausprobieren, um zu entdecken, dass er wunderschön ist. Warum haben wir, so fragen wir uns dann, den nicht schon viel früher entdeckt?“

„Weil es in einem Früher noch nicht an der Zeit war“, erklärte Ruben, „Weil wir noch nicht so weit waren genau diese Schönheit zu entdecken. Und als ich an jenem Morgen, an dem ich das erste Mal hierherkam, nicht auf das Schild gesehen hätte, dann wäre ich wohl auch nicht stehengeblieben. Ich hätte genauso gut daran vorübergehen können, ohne es wahrzunehmen. Irgendetwas veranlasste mich hinzusehen. Irgendetwas sagte mir, dass es gut ist einzutreten. Irgendetwas sagte mir, dass es gut ist zu bleiben. Dabei waren es noch nicht einmal Worte. Es war wie es war, weil es war und ich mich darauf einließ. Ich habe mich nicht widersetzt.“

„Und weil ich mich führen ließ, hierher, an jenem Abend, an dem ich für immer die Haustüre zu meinem alten Haus und zu meinem alten Leben schloss, war ich da und hatte das Schild aufgehängt, das Du gelesen hast“, sagte Lilith, „Und wem oder was auch immer ich diesen Umstand dessen, dass Du stehenbliebst und last und eintratst, dass ich schloss und stehenblieb und eröffnete, zu verdanken habe, es ist gut, dass es ist.“

„Und Du hast mir Tee angeboten und Dein Zuhören und Deine Geschichte und Deine Gesellschaft“, meinte Ruben, „Deine Wärme und Deine Zugewandtheit. Du hast mir angeboten Dir zu begegnen.“

„Und Du hast es angenommen, den Tee, das Zuhören, die Geschichte, die Gesellschaft“, sagte Lilith, „Die Wärme und die Zugewandtheit. Du hast es angenommen mir zu begegnen.“

„Und wir tasteten uns heran“, erklärte Ruben, „Zu viel ist passiert. Zu viele Narben haben wir davongetragen, von einem Früher, als dass es so einfach wäre sich zu öffnen. Man wird vorsichtiger, automatisch, denn es kann immer wieder passieren. Dass man sich irrt.“

„Und wir tasteten uns heran“, gab auch Lilith zu, „Aber es kommt der Moment, da man sich entscheiden muss. Lasse ich mich ein oder verschließe ich mich? Wenn ich mich verschließe, dann bin ich sicher. Ich kann nicht verletzt werden. Ich bleibe auf jeden Fall heil.“

„Wenn ich mich entscheide, mich zu verschließen, dann bin ich sicher und kann nicht verletzt werden und bleibe heil“, stimmte Ruben zu, „Aber ich kann auch nicht erfüllt werden. Ich lasse nicht zu, dass Du mir begegnest, wenn ich nicht zulasse, dass Du mich berührst.“

„Und wir haben uns eingelassen“, meinte Lilith, „Ich mich auf Dich und Du Dich auf mich.“

„Ich mich auf Dich und Du Dich auf mich“, sagte Ruben, „Wir aufeinander. Und indem wir uns öffneten wurden wir erfüllt von dem, was nicht wir waren, und doch wir wurde, erfüllt von Leben, das atmet und pulsiert und ist.“

„Wir ließen uns ein aufeinander, und das Leben ward Fülle, voller Freude und Zuversicht und Hoffnung“, sagte Lilith, „Als wäre ich aus einem langen, trüben, traumlosen Schlaf in eine andere Welt, in eine andere Wirklichkeit erwacht. Durch Deine Berührung. In Deiner Berührung. Durch die Begegnung. In die Begegnung.“

„Und die Welt ist wie neu. Und der Himmel ist wie neu. Und das Leben ist wie neu“, erklärte Ruben, „Als wäre es möglich mitten im Leben noch einmal einen neuen Anfang zu setzen.“

„Nicht als wäre, es ist möglich, und nicht nur möglich, es ist lebbar, so wie die Berührung, die Begegnung“, sagte Lilith.

„Und die Berührung, die wir uns schenkten, die war nicht nur Haut auf Haut“, meinte Ruben nachdenklich, „Denn wie oft sind wir schon berührt worden, absichtslos oder absichtsvoll, ganz egal. Die Berührung blieb äußerlich. Wir haben sie gespürt. Kurz, weil die Nerven in der Haut auf die Berührung reagieren und das Signal ans Gehirn schicken, aber es ist auch nichts weiter. Berührung, die geschieht, rein äußerlich, und sofort wieder verschwindet. Das passiert oft.“

„Aber es war, es ist eine Berührung, wohl Haut auf Haut, aber noch mehr, weit mehr“, fuhr Lilith fort, „Es war, es ist eine Berührung, die unter die Haut geht, bis ins Innerste, sich um mein Denken und Fühlen windet und es erweitert.“

„Es war, es ist eine Berührung, die sich in mein Herz und meine Seele und mein Denken eingebrannt hat“, sagte Ruben, „Es gibt kein Zurück mehr, wenn es geschehen ist, denn es verändert uns nachhaltig. Niemals kann man hinter die Erfahrung zurück, auf die wir uns einließen.“

„Auf die wir uns einlassen“, meinte Lilith.

„Die wir uns schenken“, meinte Ruben.

„Die wir uns schenken lassen“, sagte Lilith.

„Die angetan ist, uns heil werden zu lassen“, sagte Ruben.

„Die angetan ist, uns heil sein zu lassen“, meinte Lilith.

 

Und an diesem Abend fand sich ein gewobenes Band in der Auslage, Sinnbild für die Verwobenheit in der Berührung, die die Seele meint, und doch die einzelnen Fäden sichtbar lässt. Bleibend und neu werdend in Einem. Sich selbst nicht verleugnend und doch eingebend. Ganzheit und doch auch Teil. Begegnung, die berührt, bis ins Innerste, Wir werden und Selbst bleiben lässt.

Hier gehts zu Teil 18

Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten

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