„Jede? Ohne Berücksichtigung der Umstände? Selbst das 12te Kind einer Näherin in Bangladesh kann reich werden oder ein behindertet Bub aus Indien. Obwohl um mit Behinderung nicht dieselben Möglichkeiten zu haben, dazu braucht man nicht nach Indien zu schauen, da genügt es hier zu bleiben. Alle, die nicht funktionieren, haben sich gefälligst zur Seite zu stellen und stillzusein, wenn wir gut aufgelegt sind, bekommen sie auch ein wenig was ab, weil wir so gütig sind. Doch Güte ist kein Recht, sondern ein paternalistischer Akt. Jede soll das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein haben, um die Rechte, die in den sog. Menschenrechten verbrieft sind, überhaupt in Anspruch nehmen zu können“, erwidert die Dame, die von ihrem Gegenüber immer noch als arm eingeschätzt wird, kühl.
„Was hat das mit den Menschenrechten zu tun? Die gelten sowieso und die nehmen wir auch ernst“, erklärt die andere im Brustton der Überzeugung
„Nehmen wir z.B. den Artikel 7 der Menschenrechtsdeklaration, in dem die Gleichheit vor dem Gesetz festgeschrieben ist. Vordergründig wird dem entsprochen. Es ist nur frappant, dass wirtschaftlich schwache Personen signifikant häufiger für dasselbe Vergehen verurteilt werden als Menschen mit besserem finanziellen Background. Das hat nicht nur damit zu tun, dass diese sich eine bessere Rechtsvertretung leisten können, sondern auch mit der instinktiven Erkenntnis der Richterinnen, dass diese Person zu ihrer Klasse gehört, während die erste zum Pöbel zu rechnen ist. Es findet durch das Äußere, das Auftreten, den Dialekt, vielleicht noch gepaart mit einer körperlichen Unzulänglichkeit eine unausgesprochene Vorverurteilung statt, die wohl offen nie eingestanden wird, aber sich in den Verurteilungen spiegelt. Oder nehmen wir den Artikel 22, das Recht auf soziale Sicherheit, der vorsieht, dass jede in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen hat, die für die eigene Würde und die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit unentbehrlich sind. Hört sich gut an, wäre es auch, wenn es denn dies gestatten würde. In Wahrheit ist die soziale Sicherheit gerade mal so, dass man nicht verhungert und nicht erfriert. Selbst das geschieht mit Kalkül, denn Menschen, die jeden Tag darum kämpfen müssen, das Lebensnotwendigste zusammenzubekommen, lehnen sich nicht auf, haben keine Kraft, sich politisch zu bilden, geschweige denn, sich zu engagieren. Doch ganz gleich, ob Sozialleistungen oder Löhne, die genau so gerade das Überleben sichern, bieten die Gewähr für die sog. Obrigkeit, dass Menschen zu ausgelaugt und erschöpft sind, als dass sie sich gegen diese Ungerechtigkeit wehrten. Es wird sogar noch insofern instrumentalisiert, als dass für die Wahlpropaganda diese Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Da sind schnell die Schuldigen gefunden. Ausländerinnen oder Sozialhilfeempfängerinnen oder Obdachlose oder Arbeitslose, die Schmarotzer, die sich zu Lasten der Arbeitenden einen schönen Lenz machen. Womit wir wieder beim Anfang sind. Egal ob Adel, Kirche oder im Anschluss die Bourgeoisie, alle diese Herrschaften haben sich auf Kosten der unteren Klassen ein arbeitsloses Leben finanziert. Aber sie machen es schlau. Sie lenken von sich selbst ab und treiben Keile zwischen die Menschen. Der Kampf jede gegen jede ist eröffnet, während die sich zurücklehnen und amüsiert zusehen.“
Wiederum brachte der Kellner Kaffee. Wollten die denn nicht endlich gehen? Zumindest die eine hätte jemanden Platz machen können, der auch wirklich Trinkgeld geben kann.
„Guten Abend Fr. Dr. Winterfeld“, spricht plötzlich ein Herr im feinen Maßanzug die Dame an, die äußerlich ärmlich wirkt, „Was für eine Freude Sie hier zu treffen!“ Er wirkt tatsächlich erfreut. „Und wer ist Ihre charmante Begleitung?“, fragt er weiter.
„Das ist nicht meine Begleitung und ich weiß auch nicht ihren Namen“, erklärt die Angesprochene, „Sie hat sich nur zu mir gesetzt, weil sonst kein Platz frei war, nicht unbedingt gerne, wie ich mir vorstellen kann.“
Nachdenklich sieht sich der Herr im Kaffeehaus um, in dem nun fast alle Tische frei sind.
„Nun, wir haben wohl ein wenig länger geplaudert, als zunächst beabsichtigt“, erwidert Fr. Dr. Winterfeld, die seinen Blick richtig deutet, „Aber wenn Sie mich nun entschuldigen, ich muss aufbrechen. Ich freue mich, Sie bei der nächsten Innovationsklausur zu sehen.“ Damit reicht sie ihm die Hand und geht. Sprachlos und mit offenem Mund hat die Tischgefährtin den Vorgang beobachtet.
„Fr. Dr. Winterfeld“, wiederholt sie entgeistert, „Das war eine echte Frau Doktor, eine Ärztin?“
„Na eigentlich hat sie sogar zwei davon, also von den Titeln, aber ich habe den Eindruck, selbst die Ansprache mit einem ist ihr unangenehm. Sie legt keinen Wert auf Äußerlichkeiten, deshalb wird sie auch so gerne unterschätzt“, erklärt der unbekannte Herr, „Aber sie ist keine Ärztin, Chemikerin und Biologin und hat eine der erfolgreichsten Unternehmen weltweit aus dem Boden gestampft, das sich mit der Entwicklung und Umsetzung von technologischen Möglichkeiten zur Verbesserung unser aller Leben beschäftigt.“
„Und da ist sie Kommunistin oder Marxistin?“, fragt sie recht unbedarft weiter.
„Wie kommen Sie denn auf so einen Unsinn? Hat sie es gesagt?“, erwidert der Herr äußerst uncharmant die Frage mit einer Gegenfrage, was aber beiden nicht auffällt.
„Gesagt nicht direkt, aber sie wettert gegen den Kapitalismus, als wäre er ihr Todfeind. Da bleibt doch kaum etwas anderes“, erwidert sie.
„Auch eine Art sein Weltbild zu verkürzen. Nicht jede Kapitalismuskritik bedeutet die Forderung nach Kommunismus. Marx jedoch hat in seinen Schriften eine ausgezeichnete Analyse dieses kranken Systems abgeliefert, das nun mittlerweile die ganze Welt verseucht hat. Das zu akzeptieren und zu durchdenken, erfordert ebenfalls kein Bekenntnis, schon gar nicht eine Sektenzugehörigkeit, wie es den Marxisten angedichtet wird“, erklärt er.
„Und warum läuft sie dann so herum, so, so abgerissen?“, kann sie sich nicht enthalten zu fragen.
„Weil sie es nicht nötig hat, durch Äußerlichkeiten zu brillieren. Dazu hat sie in ihrem Leben zu viel erreicht, hat wohl mehr Geld lukriert, als viele andere“, meint er.
„Aber sie wettert doch so gegen Besitz und Reichtum“, will sie sich noch nicht geschlagen geben.
„Ich sagte, sie hat Geld lukriert, nicht, dass sie es besitzt. Einer ihrer Leitsprüche ist, dass Geld zu verwalten den enormen Vorteil hat, dass man auch Gutes damit tun kann, auch innerhalb dieses Systems. Es ist nur schlecht, wenn man sich davon besitzen lässt. Das bedeutet, dass sie, bis auf das, was sie für ihre bescheidene Lebensführung braucht, alles in die Weiterentwicklung steckt“, meint er achselzuckend.
Das Klirren von zerbrechendem Geschirr ist zu vernehmen. Dem Kellner, der die gesamte Konversation mitverfolgt hat, ist das Tablett aus der Hand gefallen. Kurz dreht sich der Herr zu ihm um, der ihm genau ansieht, wie peinlich es ihm ist, sich so verschätzt zu haben. ‚Doch woran soll man sich halten, als an Äußerlichkeiten, um Menschen zu schubladisieren?‘, scheint er zu denken. Dann wendet sich der Herr wieder der Kostümträgerin zu.
„Vielleicht sollten Sie Ihre Prioritäten ein wenig überdenken und die Art, Menschen einzuteilen“, sprachs, wandte sich um und ging.
„Und sie ist doch eine Marxistin, eine durch und durch böse, enteignungsgeile, demokratiefeindliche, diktaturbesessene Marxistin, die kein einziges brauchbares Argument gegen den Kapitalismus vorzubringen hat.“
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