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Life is too short for boring stories

Längst hatte er sich angekündigt, der Regen. Ich saß am Steg und wartete. Der volle Mond hatte sich hinter einer dicken Wolkendecke verborgen. Tropfen um Tropfen um Tropfen fielen auf mich, durchnässten mein Kleid, meine Haut, mein Haar, aber ich blieb, denn Du warst gekommen, hattest Dich im Regen neben mich gesetzt und erzähltest mir Deine Geschichte. Ich wagte es nicht, mich zu rühren, weil ich fürchtete, dass Dich meine Bewegung vertreiben könnte. Du bist scheu wie ein Reh, und doch macht Dir der Regen nichts, und auch Blitz und Donner sind Dir gleichgültig, nur die Menschen machen Dir Angst.

„Ich war siebzehn, als ich fortgehen musste“, begannst Du zu erzählen, „Siebzehn Jahre. Man kann darüber streiten, ob es eine lange oder kurze Spanne Leben war, diese siebzehn Jahre. Doch wann ist man noch zu jung dafür oder doch schon alt genug, um alles zu verlieren, alles, was man je in einem Leben sein Eigen nennen konnte. Meine ganzen Besitztümer, Kleider, Bücher, Spiele, waren mir genauso genommen worden wie sämtliche Andenken, mein Heim und meine Familie. Nicht die Erinnerungen, denn Erinnerungen haben die verfluchte Eigenschaft einfach in einem weiter zu leben, ob man das nun will oder nicht. Wie glücklich die, die mit einer gänzlichen Amnesie gesegnet wird, die mit allem was sie verliert auch die damit verbundenen Gedanken und Erfahrungen hinter sich lassen kann. So wie ihr das Äußere gewandelt wird in einem blanken, leeren Tisch, so legt ihr Inneres noch ein blütenweißes Tischtuch darauf, als wäre der Tisch des Lebens bereit neu gedeckt zu werden, ohne Vorgaben oder Rücksichten. Solch ein Trauma, und dennoch nicht die kleinste Gedächtnislücke. Für den, dem das Gedächtnis bleibt, ist das Leben ein verkohlter Tisch, der gedeckt war mit allem Bisherigen, das nicht verbrannte, sondern nur wegschmolz und mit dem Tisch zu eins verklumpte. Zäh wie Kaugummi und lästig wie Teer, der nicht mehr vom Schuh abgeht, wenn man einmal darein getreten ist. Ein letzter Blick zurück auf das Haus, in dem ich aufgewachsen war, oder besser, auf den Platz, an dem es einst stand, denn da war nichts weiter geblieben, als ein schwarzer Fleck, ein riesiger, schwarzer Fleck in der Wiese. Nichts war dem Feuer entkommen. Am Morgen war ich zurückgekommen, denn ich hatte in dieser Nacht bei einer Freundin übernachtet, und fand dies vor. Alle Dinge, die mich umgaben, all die Menschen, die mit mir in diesem Haus gewohnt hatten, und die ich meine Familie genannt hatte, meine Mutter, mein Vater, meine beiden Brüder, alles war ein Raub der Flammen geworden. Dinge und Menschen, Unbelebtes und Belebtes, wie doch von den Flammen alles zu eins gedrechselt wird. Kein Unterschied bleibt über. Vielleicht gab es das ein oder andere, das nicht ganz verbrannt war, aber alles war schwarz. Ich hätte suchen können, in diesen Ascheresten, nach Anhaltspunkten, aber was hätte es gebracht, nur den Schmerz zu vertiefen und die Gewissheit noch eindeutiger zu machen. Ich kam dorthin, an den mir so vertrauten Ort, und erkannte nichts wieder. Warum nur war ich gerade in dieser Nacht nicht zu Hause gewesen? Warum durfte ich nicht mit ihnen verbrennen? War es mein Schicksal die Trauer in die Welt zu tragen oder sollte ich im Eisen geschmiedet werden? War es denn wirklich notwendig so grausam mit mir umzugehen? Wenn ich an so etwas wie Schicksal geglaubt hätte, vielleicht wäre es dann leichter gewesen, aber ich glaubte nicht daran. Ich konnte mich selbst nicht entlasten, mich nicht damit beruhigen, dass ich irgendjemand oder irgendetwas anderes verantwortlich machte. Nur eine kleine Änderung, und alles wäre anders gekommen, aber es war nicht anders gekommen, sondern genau so wie es war. Ich war nicht dagewesen. Das war einfach so. Nicht mehr und nicht weniger. Doch warum sah ich dann die Flammen so genau vor mir?“, begannst Du Deine Erzählung, und verschwandst, weil der Regen nachließ. Du würdest mit ihm wiederkommen.

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Aus: Anonym. Begegnungen

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