Nachdem sie im kleinen burgenländischen Tschanigraben geboren wurde, tauchte die Frage nach dem Taufnamen auf. Jedes Kind brauchte einen Taufnamen. So ist es die Regel. Nicht einen Vornamen, sondern einen Taufnamen. Damals war es noch so, dass man nicht so mir nichts, Dir nichts einen Namen geben konnte, wie es eben so beliebt, womöglich noch einen fremdländischen. „Da sei der Herrgott vor!“, pflegten die alten Frauen im Dorf zu sagen, wenn sie auf ihren Bänkchen saßen und die Kopftücher zurechtrückten. Eine anständige Frau trug ab der Eheschließung ein Kopftuch. Vor allem anderen „sei der Herrgott vor!“, wie bereits erwähnt wurde. So oft wie dieser Satz wiederholt wurde, konnte man sich schon fragen, ob der „Herrgott“ überhaupt noch für irgendetwas anderes Zeit hätte, als irgendwo „vor zu sein“. Andererseits würde das erklären, warum er bei anderen Dingen durch Nichteingreifen und Desinteresse glänzte. Aber selbst vor solchen Gedanken, hätten die guten Christenfrauen gesagt, „sei der Herrgott“, wie wir schon wissen, „vor“.
Bei der Geburt des kleinen Mädchens, wie man sofort zweifelsfrei erkannte, also, dass es sich um ein Mädchen handelte, war „der Herrgott“ zweifelsohne „vor“, denn sie bekam den Taufnamen Karoline. Nachdem niemand daran etwas zu beanstanden hatte, weder aus der eigentlichen Verwandtschaft, noch aus der bloß angeheirateten, und noch weniger von den grauen Eminenzen auf ihren Bänken und mit ihren Kopftüchern, konnte die Taufe feierlich stattfinden. Um daran teilzunehmen, verließen sogar die Frauen ihre Bänke vor den Häusern und tauschten sie gegen die in der Kirche, um sich nicht zuletzt am anschließenden Festbankett gütlich zu tun. So hatte alles seine Ordnung, in Tschanigraben im Südburgenland. Natürlich war selbst dieser Ort nicht von Skandalen verschont geblieben. So klein er auch sein mochte, auch hier gab es uneheliche Kinder oder wilde Ehen oder Kinder mit fremdländischen Taufnamen. Aber wenn man zusammenhält, kann man selbst die schwersten Erschütterungen, seien sie nun moralischer oder sozialer oder sozial-moralischer Natur, beinahe schadlos überstehen. Karoline wuchs heran und wusste sehr lange nichts von ihrem Taufnamen, weil es allgemein üblich war, sie als Lintschi zu rufen. Erst, als sie in die Schule kam, lernte sie ihren wahren Namen kennen.
„Kannst Du Deinen Namen schreiben?“, wurde sie bei der Einschulung bzw. dem Eignungstest dazu gefragt, worauf sie brav und gehorsam „Lintschi“ aufmalte. Verdutzt sah sie die Frau Lehrerin an, um sie dann darüber aufzuklären, dass sie „Karoline“ hieße. Was für eine Erkenntnis, knapp nach ihrem sechsten Geburtstag. Sie war sich quasi selbst vorgestellt worden. Postwendend stellte die kleine Lintschi ihre Mutter zur Rede, die ihr lapidar antwortete, dass es eben immer so war, da in Tschanigraben und deshalb wohl auch in der ganzen Welt, und es solle „der Herrgott vor sein“ es anders zu halten. Und die kleine Lintschi-Karoline fand sich damit ab. Besuchte als solche die Volksschule und die Hauptschule, wie sie damals noch hieß, bevor sie mit ihren Eltern nach Wien zog. Ihr Vater hatte Arbeit gefunden, nachdem er lange zu Hause gewesen war. Er hatte zwar immer gesagt, da sei „der Herrgott vor“, also vor dem Umzug in die Bundeshauptstadt, aber in dem Fall hatte der Herrgott offenbar ausgelassen. Man fügte sich, auch darein im 12. Wiener Gemeindebezirk unterzukommen. Anfangs fuhren sie noch jedes Wochenende nach Hause. Auch wegen der Verwandtschaft, der eigentlichen mehr als der bloß angeheirateten, aber das ging ja in einem Ort wie Tschanigraben quasi in einem Aufwaschen. Nach und nach wurden die Besuche seltener, während Lintschi eine Lehre absolvierte, ins Berufsleben eintrat, Freunde fand und sich verheiratete. Hatte sie bisher Strobl geheißen, so wurde sie nun zu einer Pospischil. Nur das Lintschi blieb ihr. Zumindest bis sie das erste Kind gebar. Insgesamt wurden es drei. Von dem Zeitpunkt an, wurde sie nur mehr als „Mama“ bezeichnet, sowohl von ihren Kindern, als auch von ihrem Ehemann. Was wohl viel über ihre Beziehung aussagte, eigentlich. Aber das war immer so gewesen, und das sich daran was änderte, da „sei der Herrgott vor“. Das war ihr offizielles Leben, das, das sie nach außen zeigte. Mutter, Arbeiterin und Ehefrau, nur das Kopftuch trug sie nicht ihn Wien. Da war es nicht üblich. Heimlich hatte sie eine Leidenschaft, nicht als Lintschi oder als Mama, sondern als Karoline. Es begann damit, dass ihr eine Freundin, mit der sie die Lehre absolvierte, einen sog. Groschenroman zusteckte. Es war der Moment, in dem sie für Liebesgeschichten und die Franzosen als Liebhaber entflammte. Allerdings nur heimlich, denn das wäre sicher wieder etwas gewesen, wo „der Herrgott vor sein“ musste.
