Mit der Zeit und dem Abstand verblasste die Erinnerung an die Frauen mit den Kopftüchern in Tschanigraben, ebenso wie ihr „da sei der Herrgott vor“, während Lintschi sich immer öfter der Lektüre der sog. Groschenromane hingab. Als erst war sie skeptisch gewesen. „Das hat doch nichts mit dem Leben zu tun“, doch als sie sich in die Geschichte vertiefte, merkte sie, dass es gerade darum ging, dass es nichts mit dem Leben zu tun hatte, weder mit ihrer Arbeit, noch mit ihrer späteren Ehe oder dem Aufziehen der Kinder. Wenn sie nach einem langen Arbeitstag, in dem sie all ihren Verpflichtungen nachgekommen war, neben ihrem Mann auf der Couch saß oder später im Bett lag, er sich einem moderaten Schnarchen hingab, verließ Lintschi ihr Leben und versenkte sich in die Romantik und die Liebe. Niemand konnte das so gut, wie die Franzosen, schloss sie für sich. Darin war sie auch nicht mehr Lintschi, sondern Karoline. Je mehr das eigentliche, reale Leben von ihr forderte, desto öfter begab sie sich in ihre Traumwelt, in der sie sich immer mit den weiblichen Protagonistinnen identifizierte.
Die Männer, die sie in diesen Geschichten umwarben, galant, höflich und zuvorkommend, waren ganz anders, als die, die sie kannte, besonders ihr Ehemann. Die hießen Pierre oder Francois oder Antoine, und nicht so hausbacken wie Peter oder Franz oder Anton. Es war so klang- und verheißungsvoll. Schon allein das Aussprechen dieser Namen ließ ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen. Das konnte doch nicht folgenlos bleiben, und blieb es auch nicht. Besagter Pierre oder Francois oder Antoine war natürlich ein gut betuchter, wenn nicht gar adeliger Mann, der ein Lotterleben führte. Bis er einer Frau begegnete, die zwar von einfacher Herkunft war, ausgezogen aus tristen Verhältnissen mit nichts, als einem kleinen Bündel, aber ein gutes Herz hatte. Sie begegnen einander, verlieben sich ineinander, doch bevor sie das Happy End vor dem Traualtar genießen können, haben sie noch einige Hindernisse zu überwinden. Vor allem die bösen Damen, die Pierre oder Francois oder Antoine in ihre Klauen bekommen wollen, gilt es zu beseitigen. Sie wollen natürlich nur sein Geld, sind intrigant und hinterlistig. Doch letztendlich werden sie entlarvt und der Märchenprinz entscheidet sich für das Aschenputtel. Am schönsten fand Lintschi immer die Szenen, in denen das arme Mädchen aus irgendeinem Grund in Ohnmacht fällt, und ihr Galan sie postwendend auffängt. Wenn sie dann aus besagter Ohnmacht erwacht und erkennt, dass er die Situation nicht in unmoralischer Weise ausgenutzt hat, sondern sie viel mehr liebevoll umsorgt, dann weiß sie mit Sicherheit, dass er nur sie liebt. Dann folgt die Frage aller Fragen, „Willst Du meine Frau werden?“, und unter Freudentränen haucht sie ihr „Ja“.
Und wie war es bei Lintschi gewesen? Eines Tages kam ihr zukünftiger Mann und meinte, dass es doch an der Zeit wäre zu heiraten, weil seine Mutter sagte, das geht so nicht. Also wurde geheiratet. Das war es dann. Der letzte schöne Tag, das weiße Brautkleid und eine teure Feier. Am nächsten Tag hatte der Alltag Einzug genommen, sich breit gemacht und war geblieben. Wie sehr sie sich doch danach sehnte, nur einmal aus diesem auszubrechen und in den starken Armen eines Pierre oder Francois oder Antoine zu liegen, gerettet und umsorgt, die sie behandelten wie eine Prinzessin. Es würde auch schon genügen am Arm eines dieser großgewachsenen, stattlichen, dunklen Männer mit den blauen Augen und dem strahlenden Lächeln an einer Avenue zu promenieren, angetan mit einem wunderschönen Kleid, passendem Täschchen, Schuhen und Hut. Der Wunsch wurde immer drängender in ihr, so dass sie eines Abends, in einer Werbepause, zu ihrem Mann sagte.
„Ich möchte drei Tage nach Paris fahren“, sprach’s und sah ihn erwartungsvoll an, doch er murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin.
„Was sagst Du dazu?“, fragte sie nun direkter.
„Was ist mit meinem Essen?“, ließ er sich nun doch zu einer gesprochenen Entgegnung hinreißen.
„Ich werde vorkochen“, erklärte sie. Damit war er sichs zufrieden und wandte sich wieder dem Fernseher zu, denn die Werbepause war vorbei, während sich Lintschi in ihren Absichten bestätigt fühlte. Ihrem Mann war sie völlig egal, so lange es etwas zu essen gab. Deshalb saß sie wenige Tage später im Flugzeug nach Paris, überzeugt davon, dass Pierre sie bereits sehnlichst erwartete. Zur Not auch Francois oder Antoine.
