Nun, da sie, Diana und Kendra, einander gefunden hatten, gab es nichts was drängte. Kendra hatte die Nacht tatsächlich in einer Jugendherberge verbracht. „Sie weiß sich schon zu helfen, wenn es darauf ankam“, dachte Diana. Natürlich, sie war sich bewusst, dass sie ihrer Tochter hätte Vorhaltungen machen müssen, aber nachdem sie ihre Reise in allen Einzelheiten beschrieben hatte, auch ihre Angst und Verzweiflung, als sie sich plötzlich mutterseelenalleine wiederfand, war Diana überzeugt, dass das wohl Strafe genug war. Vielleicht, so überlegte Diana, hatte sie Kendra zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Deshalb flanierten sie noch durch die Stadt, den ganzen Nachmittag, gingen essen und zum Meer, plauderten und lachten und waren froh, einfach zusammen zu sein. Erst gegen Abend brachen sie auf. Auf dem Weg durch Italien übernachteten sie in einem Motel. Am nächsten Morgen fuhren sie weiter, machten noch einen Zwischenstopp in Genua und Mailand, so dass sie erst in der Nacht zurückkehrten. Es war lange her gewesen, dass sie so viel Zeit alleine mit ihrer Tochter verbracht hatte.
Die Ruhe, die sie eingenommen hatte und begleitete, durch die ganze Reise, ließ sie eine gute Zuhörerin sein. Kendra offenbarte ihr so vieles, was im Wirbel und in den Anforderungen des Alltags untergegangen war. So dass ihr ihr Vater schrecklich fehlte. Es war ihr, als hätte er sie verstoßen, sagte ihr Herz, auch wenn sie es besser wusste. Aber was kann der Verstand gegen ein verwundetes Herz ausrichten. Diana verstand, die Zurückweisung durch den Mann, der in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. Was hatte es mit ihr gemacht, dass gerade er sie einfach links liegen ließ? Diana fühlte den Schmerz mit, doch sie konnte nichts machen. Während all der Jahre, hatte sie immer wieder versucht es ihrem Mann zu erklären, auf die verschiedensten Arten, mal ruhig und sachlich, mal emotional und appellierend, doch nichts half. Ganz im Gegenteil, je mehr Diana versuchte auf ihn einzuwirken, desto mehr zog er sich zurück. Sie hatte ihnen nicht helfen können, weder Kendra, die um den Vater trauerte, den sie nie hatte und sich doch so schmerzhaft gewünscht hatte, noch ihrem Vater, der womöglich irgendwann um die vertane Chance trauern würde, eine Beziehung zu seiner Tochter aufgebaut zu haben. Dann würde es zu spät sein. Kendra erzählte Diana aber noch viel mehr, alles, was sie bewegte, was ihr Hoffnung gab und was ihr Angst machte, wohl auch, weil Diana nicht urteilte, sondern einfach zuhörte, froh darüber, dass sie ihre Tochter so weit in sie einließ. Wie oft passiert es doch, dass wir grundlos davon ausgehen, dass mit den Menschen, mit denen wir zusammen leben, alles in Ordnung ist? Wie oft sind wir blind für die Sorgen und Nöte jener, die uns vermeintlich am nächsten stehen? Vielleicht gelingt es nicht immer, sich wirklich einzulassen, die Ruhe zu finden und auch die Besonnenheit, doch Diana nahm sich vor, von nun an achtsamer zu sein. In gewisser Weise war dieses Ausbrechen ihrer Tochter auch ein Hilferuf gewesen. Diana hatte ihn gehört und darauf reagiert, hatte ihn nicht ungehört verhallen lassen. Und jetzt, da sie dies verstand, merkte sie auch, dass es Anzeichen gegeben hatte, die sie aber übersehen oder ignoriert hatte. Sie waren zu unauffällig. Es war notwendig gewesen, lauter zu sein, auffälliger und aufsehenerregender, es war notwendig gewesen, um wahrgenommen zu werden, auch in ihrer Not.
Diana und Kendra waren todmüde, als sie in dieser Novembernacht nach Hause zurückkehrten. Es war die erste Nacht, in der Diana wieder durchschlief. Sie wusste nun, was wirklich wichtig war in ihrem Leben, was zählte. Für die Menschen da zu sein, denen man verbunden ist, die Anteil nehmen, aber auch jene aus seinem Leben zu verbannen, die einen nur Kraft kosten, die einen aussaugen und sich daran stärken, während man selbst langsam daran zugrundegeht, jene, die einen nur benutzen, bis man für sie keinen Wert mehr hat und deshalb ausgetauscht werden konnte. Jede einzelne Träne, die Diana für jenen Mann vergossen hatte, war Verschwendung gewesen. Es war die Zeit, da sie ihn hinter sich ließ und auch die, sich noch mehr für die Menschen einzubringen, denen sie wichtig und wert war. All das hatte sie gelernt, durch ihre Reise nach Montpellier. Es war gut, diese Reise gemacht zu haben, denn sie hatte Diana weit über Montpellier hinaus zu einem neuen Verstehen und Miteinander geführt.
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