20. Mit offenen Augen
Den ganzen Tag über hatte es geschneit. Flocke um Flocke war vom Himmel gefallen und hatte sich niedergesetzt, auf den Straßen und Bänken und Dächern und Giebeln. Die Menschen gingen darüber hinweg und hinterließen ihre Spuren. Tagsüber waren es viele gewesen. Achtlos trampelten sie darüber. Es ging nicht anders. Aber das störte die Flocken nicht, die unaufhörlich fielen. Dann wurden die Spuren weniger und die Flocken begannen sie zu verdecken, bis nur mehr sie waren. Nichts mehr erinnerte an das Vorübergehen. Lilith stand am Fenster, während Rebekka, Samuel und Ruben am Tisch saßen und eifrig diskutierten. Lilith stand am Fenster, während sie um die Anwesenheit der anderen wusste, selbst wenn ihr Blick sich in der weißen Pracht und im Glitzern verfangen hatte. Es ist gut darum zu wissen. Es ist gut.
„Und dann hatte ich heute auch noch Kinderdienst“, murrte Rebekka, „Endlich einmal einen halben Tag frei, und was muss ich machen? Ich muss auf den Kleinen aufpassen.“
„Aber das kann ja nicht so schlimm sein, der ist doch erst fünf. Was kann da schon viel dran sein?“, fragte Samuel.
„Man merkt, dass Du überhaupt keine Ahnung hast!“, fauchte Rebekka Samuel an, „Aber woher solltest Du auch, Du hast ja keine Geschwister. Du bist der Prinz.“
„Der war gut!“, entgegnete Samuel mit einem schiefen Lächeln, „Prinz! Ich hätte immer gerne Geschwister gehabt, aber das war wohl nichts.“
„Das sagst Du auch nur, weil Du keine hast und auch keine Gefahr besteht, dass Du noch welche bekommst“, beharrte Rebekka, „Aber, wenn Du meinst, Du würdest Dir Geschwister wünschen, ich borg Dir meinen Bruder gerne einmal für einen Nachmittag. Dann weißt Du auch wovon ich rede.“
„Ja, aber was ist denn wirklich daran so anstrengend?“, fragte nun Ruben, der bis jetzt nur daneben saß und zuhörte. Er hatte auch versucht sich zu erinnern, wie es war, damals als seine Kinder so klein waren, aber er fand keine Bilder dazu in seinem Kopf. Es war, als hätte er diese Zeit gar nicht erlebt. Und wenn er wirklich ehrlich zu sich war, so musste er sich eingestehen, dass er sie wohl tatsächlich nicht erlebt hatte. Zu sehr war er mit seinem eigenen Leben beschäftigt gewesen, mit allem, was Wichtiger war. Was war davon geblieben, von diesem Wichtigeren, das ihn seinen Kindern entfremdete oder ihnen erst gar nicht wirklich nahe kommen ließ. Es war so. Er konnte es nicht ändern. Dennoch war es ihm ein Rätsel, wie man es schaffte das Naheliegendste zu übersehen. Vielen erging es ähnlich wie ihm, aber auch wenn man es wusste, wenn man die Fehler der anderen genau benennen konnte, so hinderte das nicht, sie selbst ebenso zu machen.
„Er gibt keine Minute Ruhe“, erklärte Rebekka, „Keine einzige Minute. Unglaublich, was in so einem kleinen Kerlchen an Energie steckt. Wie ein kleines Äffchen, ständig in Bewegung, aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Was wirklich mühsam ist, ist seine ständige Fragerei. Alles muss er wissen. ‚Warum?“, ganz egal, was ich erzähle, was ich ihm erkläre, ständig fragt er ‚Warum?“, und das bei den allereinfachsten, allerselbstverständlichsten Dingen. Es ist nicht auszuhalten.“
„Aber es ist doch schön, wenn Kinder Fragen stellen, wenn sie wissen wollen was in der Welt vorgeht“, meinte Samuel, als wäre er wirklich überzeugt von dem, was er sagte.
„Dann sag mir mal, warum der Schnee weiß ist und warum das Wasser hinunterläuft und nicht hinauf und warum der Himmel blau ist und was weiß ich noch alles …“, entgegnete Rebekka langsam.
„Das heißt, es ärgert Dich eigentlich nur deshalb, weil Du keine Antwort geben kannst“, meinte Samuel schnippisch.
„Natürlich weiß ich eine Antwort, schließlich habe ich auch ab und zu in der Schule aufgepasst, aber oft genug ist er mit meinen Antworten ganz und gar nicht zufrieden, und dann fragt er weiter und weiter, und das einen ganzen Nachmittag lang“, erklärte Rebekka.
„Warum glitzert der Schnee?“, meldete sich nun Lilith zu Wort. Aller Augen wandten sich ihr zu, als hätten sie vergessen, dass sie da war, so still hatte sie sich verhalten. Und sie war womöglich wirklich nicht da, so versunken im Glitzern und Funkeln der Flocken vor dem Fenster. Wer weiß das schon so genau zu sagen, inwieweit ein Mensch da ist. Seine bloße Anwesenheit sagt nichts darüber aus.
„Jetzt fang nicht Du auch noch an!“, meinte Rebekka verärgert, „Jetzt bin ich der Fragerei zu Hause gerade erst entkommen, und jetzt soll es da genau so weitergehen?“ Lilith sah Rebekka eindringlich an.
„Es geht auch gar nicht um eine Antwort, nicht um ein richtig oder falsch, nicht um wissenschaftliche Präzision. Es geht nicht darum etwas chemisch oder physikalisch oder ontologisch zu erklären“, erwiderte Lilith nachdenklich.
„Was soll das jetzt für ein Unsinn sein!“, sagte Rebekka ungerührt, „Wenn man Fragen stellt, so tut man das, um eine Antwort zu erhalten, und zwar eine, die stimmt. Das weiß doch sogar schon ein Fünfjähriger.“
„Ja, vielleicht auch, aber nicht in erster Linie“, erklärte Lilith ungerührt, „Es geht darum Dich darauf hinzuweisen, dass es sich so zeigt wie es sich zeigt. Sieh hin und staune über das, worüber Du zu staunen schon längst verlernt hast. Und ist es nicht wunderschön, wie sich das Licht in den Schneekristallen bricht? Ist es nicht erstaunlich, dass man sich darauf verlassen kann, dass das Wasser hinunterrinnt? Ist es nicht beeindruckend, dass der Himmel blau ist? Wann hast Du das zum letzten Mal als Staunenswert erachtet? Wann bist Du zum letzten Mal mit offenen Augen durch die Welt gegangen und hast all die kleinen Wunder gesehen, die uns mit aller Selbstverständlichkeit umgeben, mit so viel Selbstverständlichkeit, dass wir gar nicht mehr merken, dass es bestaunenswert ist?“
„Das kann aber jetzt nicht Dein Ernst sein!“, kam Rebekkas entnervte Erwiderung, „Wenn ich dauernd über alles Staunen würde, dann könnte ich ja sonst nichts mehr tun. Dann wäre ich lebensunfähig. Wenn man es zum ersten Mal sieht, dann kann es wohl noch so sein, aber doch nicht immer. Da muss einem schon ziemlich fad sein.“
„Das wollte ich damit auch nicht sagen“, erklärte Lilith langsam, denn sie merkte, dass man nicht zu schnell antworten durfte, wenn man verstanden werden wollte, „Aber wir leben dahin und dahin, und vergessen auf all das. Wir sollen auch nicht über alles und jedes staunen, aber ab und zu innehalten und das Glitzern im Schnee sehen und es wirken lassen. Ab und zu innehalten und das Staunen wiederzufinden, das wir mit den Kindertagen ablegen. Wieder einmal die Welt zu sehen wie ein Kind. Das wäre die Botschaft, und das ist es wohl auch, worauf Dich all die Fragen Deines Bruders hinweisen hätten sollen.“
Und während Lilith sich wieder dem Fenster zuwandte, das Glitzern und Funkeln zu sehen, mit offenen, wachen Augen, das Staunen zu erleben, trat Ruben neben sie. Er legte die Hand um ihre Schultern, während sein Blick der Richtung folgte, die der ihre nahm. Staunen, mit offenen Augen die Welt zu sehen, und es war auch ihm, als hätte er zum ersten Mal seit Langem wieder die Augen geöffnet.
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Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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