Ich hatte lange geschlafen, an diesem vierten Adventtag. Verschlafen tapste ich aus meinem Zimmer, ging durch das Wohnzimmer in die Küche, doch weit und breit keine Spur von Jesus und Maria. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, dass es nun doch noch aufgeklart und der Regen sich zurückgezogen hatte, zumindest für eine Weile. Automatisch machte ich mir Tee. Ob sie vielleicht noch schliefen? Das konnte natürlich sein. Warum auch nicht, aber irgendetwas sagte mir, dass dem wohl nicht so war. Ein wenig unruhig ging ich durchs Haus. Zerstreut auch. Wo konnten sie nur sein? Sie konnten natürlich hingehen wo sie wollten und mussten mir keine Rechenschaft abliefern. Darüber war ich mir im Klaren. Dennoch war es seltsam. Mit einem Mal fühlte ich mich gänzlich verloren und verlassen. Was hatte das zu bedeuten? Was war geschehen?
Um mich abzulenken, holte ich Holz aus dem Schuppen und entzündete das Feuer im Kamin, das mittlerweile ausgegangen war, was mir sagte, dass sie schon vor einiger Zeit das Haus verlassen hatten. Aber warum nur? Gut, auch dafür konnte es viele Gründe geben. Gedankenverloren machte ich Tee, für mich und für sie, obwohl ich keine Ahnung hatte, wann sie zurückkommen würden. Vielleicht kämen sie überhaupt nicht wieder. Oder sie waren nie hier gewesen. Alles nur Einbildung. Ein Produkt meiner überbordenden Fantasie. Meines Wollens. Auch meiner Sehnsucht. Nichts weiter. Jesus in Irland. Oder sonstwo. Und Maria, nicht irgendeine, sondern Maria von Magdala. Eine absurde Vorstellung eigentlich. Übergeschnappt. Möglicherweise. Vieles hatte darauf hingedeutet. In letzter Zeit. Es ist nicht gut, sich zu sehr zu vertiefen, worin auch immer. Auch in das Leben. Als wenn ich anders könnte, wenn es sich schon so anbot. Einfach gelebt zu werden. Es kann schon sein, dass die ganze Oberflächlichkeit, die Kunst sich nicht betreffen zu lassen, auch ihre Vorzüge haben. Wenn man es denn kann. Im selben Moment, in dem ich es dachte, war mir auch klar, dass es für mich keine Option war. Es gab durchaus Schlimmeres als sich auf das Leben einzulassen. Zum Beispiel sich nicht auf das Leben einzulassen. Trotzdem es manchmal so unendlich schmerzt. Das Leben und das, das anderen vorenthalten wird. Vielleicht aus Naivität. Auch. Aber wer kann sich heutzutage noch ernsthaft und glaubwürdig einreden, dass er oder sie so naiv sind, das nicht zu sehen, was sich in, mit der Welt abspielt? Allzu viele, wie ich mir eingestehen musste. Heile Welt, zumindest um einen herum. Alles andere ist egal. Das hat mit mir nichts zu tun. Damit habe ich nichts zu tun. Sollen sich doch die anderen darum kümmern. Die Politik. Die Kirche. Die Gewerkschaft. Oder der liebe Gott. Ich kann nichts dafür. Also kann ich auch nichts dagegen. So einfach kann ein Weltbild sein. Ob diese Menschen wohl ihre Scheuklappen zum Schlafengehen ablegen? Oder haben sie sich bereits so daran gewöhnt, dass sie nicht einmal beim Schlafen stören? So kann man zumindest nicht darauf vergessen, sie am nächsten Tag wieder anzulegen. Kann aber auch gut sein, dass sie so mit einem verwachsen sind, dass sie gar nicht mehr abgehen.
Es war mitten in Dublin. Samstagabend. Tausende Menschen drängten durch die Straßen, von einem Pub zum anderen, von einer Belustigung zur anderen. Ich schlängelte mich durch die Menschenmassen. Eigentlich wollte ich so schnell wie möglich ins Hotel. Ich konnte sie nicht länger ertragen, diese gegrölte, bierselige Heiterkeit, als ich unvermittelt stehen blieb. Mitten in diesem Krawall stand ein kleines Pferdchen, eingespannt vor eine Kutsche. Verloren und verlassen. Mitten in der Nacht. In einer belebten Straße von Dublin. Müde ließ es den Kopf hängen. Ich war wie erstarrt, während sich neben mir unbeirrt die Massen weiterschoben. Unbeachtet stand es da, das kleine Pferdchen, das hier nichts verloren hatte. Langsam ging ich auf es zu. Kniete mich vor es hin. Am liebsten hätte ich es abgeschirrt und mitgenommen. Stattdessen kniete ich einfach da, auf der dreckigen Straße und weinte. Weinte aus Wut und Verzweiflung, aus Ohnmacht und Hilflosigkeit. Wie kann man nur? Was ist das für eine Welt, in der Menschen gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie andere derart schamlos ausnutzen?
„Stell Dich nicht so an“, hörte ich plötzlich eine Stimme neben mir. Als ich aufsah, erkannte ich einen jungen Mann mit einer leichtbekleideten Dame im Schlepptau, „Ist ja nur ein Gaul.“
„Nur ein Gaul?“, fragte ich, seine Aussage aufnehmend, „Und Du bist nur ein verdammtes, widerliches, herzloses Arschloch.“
Das konnte sich das auf zwei Beinen gehende Testosteronpaket wohl nicht bieten lassen, vor allem nicht vor seiner Freundin, doch statt auf mich loszugehen, trat er dem Pferdchen in die Seite. Es krümmte sich vor Schmerzen, doch es konnte nicht aus. Er holte bereits zum zweiten Tritt aus, doch ich stellte mich dazwischen, so dass er mich voll in den Bauch traf. Es tat verdammt weh, doch nichts konnte so groß sein wie der Schmerz dieser armen, geknechteten Kreatur, außer der Ignoranz des Angreifers.
„Schnell, hol eine Decke und Handtücher“, riss mich Jesus Stimme aus meinen Gedanken. Unversehens war die Türe aufgestoßen worden. Jesus und Maria kamen herein. Beide trugen ein Bündel in Händen. Ich konnte nicht erkennen was es war, aber die Dringlichkeit in seiner Stimme bewog mich, seiner Bitte nachzukommen. Wenige Augenblicke später stand ich mit Decke und Handtüchern bestückt im Wohnzimmer.
„Leg die Decke vor den Kamin“, fuhr Jesus fort, und ich tat es.
„Gut, Du hast eingeheizt“, sagte Maria, während sie ihre Bündel auf die Decke legten. Es war eine schwarze Hündin und ihre Jungen. Drei Babies, die sich sofort auf die Suche nach den Brüsten machten. Die Hündin sah abgemagert aus und zitterte am ganzen Körper. Es dauerte einige Zeit, bis sich das Zittern legte. Vorsichtig stellten wir ihr was zu essen hin. Gierig aß sie alles auf, bis zum letzten Krümelchen. Stille kehrte ein.
„Ich habe auch Tee gemacht“, hörte ich mich sagen. Es klang wie aus weiter Ferne und völlig deplatziert.
„Das hatte ich gehofft“, erwiderte Jesus in seiner herzerfrischenden Direktheit, „Es war gar nicht so leicht die vier da aus ihrem Versteck zu kriegen. Ich bin ein wenig abgefroren.“
„Wo habt ihr sie gefunden?“, fragte ich.
„In der alten, verfallenen Kapelle. Dort hat sich die Hündin einen Unterschlupf gefunden, der zumindest halbwegs trocken war, um ihre Jungen zur Welt zu bringen“, erklärte mir Maria, „Es kann noch nicht allzu lange her sein, denn sie haben die Augen noch geschlossen.“
„Wie gut, dass ihr sie gefunden habt“, sagte ich, während ich mir verbat mir auszumalen was aus den Vieren geworden wäre, hätten Jesus und Maria sie nicht gefunden.
„Eines von den Kleinen hat es nicht geschafft. Wir haben ihn an Ort und Stelle begraben“, merkte Jesus an, während ich die kleine Familie nicht aus den Augen ließ. Sie schliefen. Was für ein Vertrauen ins Leben sie doch haben mussten. Die Hündin, die alles, selbst ihr eigenes Leben gegeben hätte um ihre Babies zu retten. Und die Kleinen vertrauten sich bedingungslos ihrer Mutter an. So einfach konnte es sein, ohne irgendetwas von der Zukunft zu wissen. Ohne eine Ahnung zu haben, wo sie heute etwas zu essen herbekommen könnte. Trotzdem.
Das Leben kam und das Leben ging. Das ist so. Daran gibt es nichts zu rütteln. Aber zwischen dem Kommen und dem Gehen liegt eine Zeitspanne, in der es getan werden will. Und das einzige Tun, das uns das Leben abverlangt ist, es zu leben. Nichts weiter. Man kann es sich schwer machen. Oder leicht. Für viele ist es keine Option. Zumindest was die angeblich intelligenteste Spezies auf der Welt betrifft. Für diese Hündin und ihre Jungen war es ganz selbstverständlich. Da gab es keine Option. Vielleicht hatten sie die Botschaft von Weihnachten schon längst begriffen, ohne auch nur irgendetwas darüber zu wissen. Mit all unserer Reflektiertheit kommen wir oft nicht so weit, wie diese Hundefamilie von Anfang an war. Weihnachten als das Fest des Lebens, die Feier einer Geburt. Hier war ein Lebewesen, das genauso ausgestoßen, davongejagt worden war, an den Rand gedrängt und vergessen. Nur, dass über sie niemand eine Geschichte schreiben wird. Es gäbe zu viele. Überall in der Welt passiert es. Manche überleben. Andere nicht. Es ist unausweichlich. Oft. Aber nicht immer. Ein Stück weit, ist es wohl das, was Weihnachten sein sollte. Hatte ich den richtigen Weg doch noch gefunden?
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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