19. Seifenblasen im Wind
Ruben und Lilith hatten angeregt diskutiert. Angeregt, aber nicht aufgeregt. Über dies und das. Nichts was wirklich betroffen hätte. Nichts weiter. Manchmal ist es gut. Manchmal ist es eine Ablenkung.
„So vieles scheint schief zu laufen, und doch, es bleibt keiner stehen um zu sehen, wie es richtig laufen könnte“, schloss Lilith einen Gedankengang ab, „Und wenn es gar nicht passt, dann laufen sie davon. Als wenn es woanders besser wäre. Man nimmt sich selbst und seine Anpassungen ans Leben immer mit. Egal wo man ist. Man ist selbst.“
„Manche schon, aber es sind zu wenige. Die anderen stürmen an ihnen vorbei. Es spielt keine Rolle“, ergänzte Ruben, als er endlich begriff, dass Lilith nicht mehr das meinte, wovon sie eigentlich sprachen, „Aber worum geht es wirklich?“
„Was meinst Du?“, fragte Lilith ausweichend.
„Du sprichst von Menschen, die davonlaufen, von Menschen vielleicht, die vor Dir davongelaufen sind?“, meinte Ruben, und Lilith sah auf, sah ihn an. Warum nur war sie so leicht zu durchschauen? Oder war sie nur für ihn so leicht zu durchschauen?
„Ich hatte geträumt“, begann sie, „Ich hatte mein Leben geträumt. Es war ein Leben, in dem ich mich einbringen konnte, mich den Herausforderungen stellen, und zuletzt, wenn die Kinder groß wären, dann, so das Bild in mir, würden wir wieder näher zusammenrücken, mein damaliger Mann und ich, würden das Leben genießen und unsere Enkelkinder betreuen. Würden auf der Terrasse sitzen und reden. Würden uns Dinge ansehen und tun, für die uns so lange die Zeit fehlte. Und dann sind sie alle weggegangen. Und was ist jetzt mit meinen Träumen? Mit meinem Traum vom Leben? Was bleibt, wenn alle Träume weg sind? Sie sind verweht worden, wie Seifenblasen im Wind. Es bleibt nichts weiter als ein bitterer Nachgeschmack. Aber vielleicht ist es auch gut, wenn ich meine Träume los bin. So kann ich zumindest nicht mehr enttäuscht werden.“
„Und Du meinst, damit ist alles vorbei, einfach so? Wenn ein Traum zerplatzt, oder Dir weggenommen wird, weil er sich als bloße Illusion und unerfüllbar herausstellte, dann kommt nichts mehr?“, fragte Ruben.
„Es kommt nichts mehr, denn es war der Traum, der ein Leben ausmachte. Nein, nicht irgendein Leben, mein Leben“, sagte Lilith, und es klang ein wenig trotzig.
„Du stehst da und tust nichts weiter als den Seifenblasen nachzusehen“, meinte Ruben, „Und wenn Du sie auch nicht mehr siehst, bleibst Du trotzdem stehen und siehst immer noch auf den Punkt, an dem sie verschwunden sind“, meinte Ruben.
„Habe ich denn eine Wahl? Gibt es denn irgendetwas sonst, was des Träumens wert ist? Gibt es noch einen Traum für mich?“, entgegnete Lilith. Und sie sah ihn an. Da war so viel Traurigkeit in ihrem Blick und Resignation.
„Natürlich gibt es einen Traum für Dich. Es gibt immer einen Traum“, meinte Ruben, als wollte er ausweichen, denn es klang ein wenig lahm. So allgemein und abgedroschen.
„Und wie bitte soll der aussehen?“, fragte Lilith, ein wenig enttäuscht. Aber nicht überrascht. Was sollte er denn sonst sagen, als sie in weitere Illusionen zu drängen, so haltlos, wie unverdächtig.
„Du stehst dort und siehst den Seifenblasen nach, die schon lange entschwunden sind“, fasste Ruben nochmals die Situation zusammen, die sie schon konnten und die eben war sie war, „Du meinst, Du kannst nicht anders, weil es alles war, was Du an Träumen hattest. Aber auch nur, weil Du nichts anderes sehen willst. Du hast es mit Dir getragen, über viele Jahre. Das bedeutet aber auch, dass Du alle anderen Träume wegschicktest, um Dich allein auf diesen einen zu konzentrieren. Bis dann tatsächlich nur mehr der eine da war, von dem Du dann meintest, es wäre der einzige, den es überhaupt gäbe.“
„Ab und an kam einer, ich erinnere mich, aber es gab keinen Platz dafür. Ich dachte, ich bräuchte keine Plan B, weil es eben so sein würde, weil es sich erfüllte“, gab Lilith ihm Recht, „Und jetzt ist es zu spät. Man kann nicht am Ende nochmals von vorne anfangen.“
„Man kann nie von Vorne anfangen, denn immer gibt es in einem Leben ein Davor, das wir mitnehmen, aber man kann etwas Neues anfangen, immer, selbst am letzten Tag“, erklärte Ruben, und es klang gut, aber nur, weil etwas gut klang, hieß das noch lange nicht, dass es auch lebbar war.
„Und wie soll das gehen?“, fragte Lilith.
„Das erste was Du tun solltest, ist loszulassen. Du stehst dort und siehst unverwandt in eine Richtung, in die, in die Deine Träume wie Seifenblasen entschwunden sind“, fasste Ruben zusammen, „Verabschiede Dich von diesem Blick und sieh Dich um. Es gibt so viele andere Richtungen, in die Du blicken kannst, so viele Möglichkeiten anderes zu entdecken. Aber um das zu bemerken musst Du Dich zuerst von dem befreien, was Dich eigentlich gefangen hält.“
„Eine Vorstellung, von der ich meinte, dass sie mein Glück bedeutete, und die zu meinem Gefängnis geworden ist“, sagte Lilith nachdenklich, „Ein Traum, den ich absolut setzte, und der sich als Illusion erwies.“
„Und es war kein Traum, der Dir gehörte, sondern einer, der darauf baute, dass andere denselben Traum hatten. Du hast Deinen Traum auf andere gebaut, statt ihn mit ihnen zu haben“, erklärte Ruben, „Doch Du kannst niemandem Deine Träume aufzwingen. Es geht darum Deinen Traum zu finden, zu erfahren, was Du willst. Alle hast Du bedacht, kommt mir vor, alle, in Deinen Träumen, nur Dich nicht.“
„Es ist nicht leicht an sich zu denken, wenn man so lange nur an andere dachte“, erklärte Lilith, und es klang wie eine Entschuldigung.
„Manchmal gehen wir einen Weg, auch wenn es nicht der richtige ist. Trotzdem laufen wir weiter, weil wir ihn nun mal eingeschlagen haben und meinen, dass es keine Alternative gibt“, sagte Ruben.
„Auch ich bin blind“, meinte Lilith versonnen, „Immer und immer wieder übersieht man den Balken im eigenen Auge.“
„Oh ja, denn ich hatte auch einen Traum, einen ähnlichen wie Du“, sagte Ruben.
„Was meinst Du, hast Du Lust etwas zu feiern?“, fragte Lilith mit einem verschmitzten Lächeln, das die Traurigkeit und die Resignation vertrieben hatte.
„Klar, aber was hätten wir zu feiern?“, hakte Ruben nach.
„Den Tag, an dem wir uns von unseren Illusionen verabschieden, loslassen, und unsere neuen Träume willkommen heißen, wie auch immer diese aussehen mögen, was auch immer das sein mag“, schlug Lilith vor, „Abschied und Neubeginn.“
„Das klingt wunderbar“, stimmte Ruben zu, „Wir gehen aus und schenken uns einen Traum.“
Und weil ein Traum etwas war, das man nirgends kaufen konnte, auch nicht das Verabschieden und Loslassen, passte es in das leere Geschäft. Als Symbol fand sich an diesem Abend eine Dose Seifenblasen in der Auslage. Abschied und Neubeginn. Auch das war ein Geschenk.
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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