7. Jenseits des Schmerzes
Schweigend tranken sie Tee, Ruben und Lilith, an diesem Morgen. Lilith wirkte in sich gekehrt und verloren. In sich verloren. Man konnte es nicht anders beschreiben. Ruben, immer noch ein wenig unsicher im Umgang mit solchen Gesprächen, die ganz offensichtlich das Seelenleben betrafen, oder sollte es gar eine Herzensangelegenheit sein, fand nicht die richtigen Worte und so schwieg er mit ihr. Sanft fiel der Schnee auf den Bürgersteig. Liliths Blick ging hinaus, in die Ferne, doch auch er spiegelte ihre Verlorenheit. Ob er es nicht doch versuchen sollte? Was konnte ihm passieren, hier, in diesem geschützten Raum, in ihrem Miteinander? Wo sonst könnte er versuchen seinen neuen Zugang zu erproben, wenn nicht hier, wo er sich angenommen und geborgen fühlte?
„Du bist so still heute“, begann Ruben ungelenk. Sacht sah Lilith ihn an. Sie erkannte seinen Versuch, auch wenn er ein wenig linkisch war. Eigentlich hätte sie ihm gerne zugelächelt, aber es ging nicht.
„Man kann auch miteinander Schweigen“, erklärte sie ruhig.
„Ja, das kann man“, gab Ruben ihr Recht, „Aber es gibt verschiedene Arten von Schweigen. Es gibt Schweigen, in dem man sich miteinander verbunden fühlt. Und es gibt Schweigen, das uns trennt. Und das hier kommt mir vor wie eines, das uns trennt.“ Hatte er das jetzt tatsächlich gesagt? Er konnte es kaum glauben. Tatsächlich war es ihm gelungen Worte für das zu finden, was er empfand, was die Stimmung ihm zusprach, und es war ganz leicht gewesen, eigentlich.
„Findest Du?“, fragte Lilith, „Kann schon sein.“
„Ich habe den Eindruck, dass Du ganz weit weg bist“, erklärte Ruben weiter, immer sicherer werdend auf dem bisher kaum betretenen Terrain, „Und sag jetzt bitte nicht, dass Du eh da sitzt. Körperlich bist Du anwesend, aber alles andere an Dir ist weit, weit weg.“
„Da magst Du recht haben“, rang sich Lilith zu einem Zugeständnis durch, und es schien ihr nicht leichtzufallen.
„Aber warum ist das so? Habe ich irgendetwas getan?“, fragte Ruben weiter.
„Nein, Du hast nichts getan, also nichts Falsches. Ganz im Gegenteil. Du bist da, und das ist gut“, sagte sie ruhig.
„Was ist es dann? Ist etwas passiert?“, blieb Ruben hartnäckig.
„Eigentlich ist nichts passiert. Es ist alles nur in meinem Kopf“, erklärte Lilith.
„Erzähl mir davon, bitte“, forderte Ruben.
„Heute morgen, noch bevor Du kamst, stand ich in der Küche und sah auf den Kalender“, begann Lilith zögernd zu erzählen, „Der siebente Dezember, ein Mittwoch, stellte ich fest. Es war einfach nur eine Feststellung, und mit der Feststellung kam ein Bild zurück. Es war vor vielen, vielen Jahren. Da saß ich an einem siebenten Dezember mit meinem Ex-Mann, der damals noch nicht einmal mein Mann war, beim Frühstück. Er saß mir gegenüber und erzählte mir von all den Dingen, die er vorhatte. Damals stand er noch ganz am Anfang. Er war so voller Träume und Pläne. Ich durfte daran teilhaben, damals. Und plötzlich unterbrach er sich, und meinte, wir sollten doch heiraten, denn dann könnte er mit mir seine Pläne verwirklichen und er könne sich nichts Schöneres vorstellen als dies zu tun. Mit mir. Das fiel mir wieder ein.“
„Und es tat weh?“, fragte Ruben unvermittelt.
„Weh? Es war mir in dem Moment, als wäre ich in ein Bad aus glühender Lava geschleudert worden, als hätte man mir die Haut bei lebendigen Leib in Fetzen gerissen, als hätte man mir das Herz entzweigeschnitten. So gesehen hat es weh getan“, erklärte Lilith, und sie spürte es selbst, den sarkastischen Unterton, doch sie konnte es nicht verhindern.
„Und warum hat Dich das so getroffen?“, fragte Ruben weiter, der noch so wenig von Liliths Leben wusste.
„Was mich so getroffen hat?“, erwiderte Lilith, „Ach ja, Du kannst es ja nicht wissen. Wir heirateten, und er begann seine Pläne zu verwirklichen. Am Anfang war ich mit dabei, integriert und verantwortlich. Doch dann kamen die Kinder. Ich hatte eine andere Aufgabe. Er hatte seine. Langsam aber sicher drifteten wir voneinander weg, bis er aus der alltäglichen Entzweiung eine vollständige machte. Dann hat er mich verlassen. Und ich dachte, ich hätte das hinter mir gelassen, hätte mich damit ausgesöhnt, dass es so ist wie es ist. Aber heute Morgen merkte ich, dass das ganz und gar nicht der Fall ist.“
„Hast Du den Schmerz je zugelassen?“, fragte Ruben, „Bist Du wirklich durch ihn hindurchgegangen, hast ihn erlebt, mit aller Intensität?“
„Nein, ich konnte nicht“, erklärte Lilith, „Ich wollte es nicht sehen, nichts davon wissen. Ich wollte nur versuchen weiterzuleben so gut es eben ging. So viele Momente, die uns verbanden. All die Träume, die ich hatte für die Zukunft. Ich sah uns schon mit unseren Enkelkindern auf der Terrasse sitzen. All das sollte plötzlich weg sein, einfach so? Ich wollte es nicht wahrhaben und habe mich abgelenkt.“
„Dann lass es jetzt zu, lass Dich los, geh durch den Schmerz hindurch und komm wieder heraus“, forderte Ruben sie auf.
„Und was ist, wenn ich den Weg aus dem Schmerz nicht mehr finde, wenn ich darin verloren gehe?“, fragte Lilith verunsichert.
„Das kann nicht passieren, denn ich bin da und halte Dich. Ich zeige Dir den Weg aus dem Schmerz heraus, wenn es notwendig ist“, erklärte Ruben überzeugt. Und sie glaubte ihm.
Da kam sie wieder zu sich zurück. Das Schweigen war wieder da, aber es war ein verbindendes Schweigen, und während Lilith sich durch den Schmerz bewegte, spürte sie seine Hand, die die ihre hielt. Und als die Tränen flossen, da fand sie sich umarmt. So sehr der Schmerz sie auch hinunterzog, sie wusste, es gab einen Weg hinaus. Sie ließ es zu, dass die Wunde, die sie in sich trug, aufgerissen wurde, dass sie ausblutete und sich wieder schloss, dass sie anerkannte als einen Teil ihrer selbst. Erst jetzt war es möglich, dass sie heilte. Nicht von heute auf morgen. Es würde lange Zeit in Anspruch nehmen, aber nur, wenn sie diesen Anfang machte, konnte die Heilung überhaupt beginnen.
Und die Tränen versiegten, irgendwann. Wer zählt schon die Minuten in solch einem Moment? Ruben war immer noch da. Er sah sie an. Ein wenig war es ihr, als hätte er diesen Schmerz mit ihr getragen. Sie hatte seine Hand gespürt und seine Umarmung, hatte gespürt, dass er da war. Er hatte es ihr leichter gemacht. Auch wenn das Schweigen noch immer da war so war es doch ein gefülltes, ein verbindendes. Es würde nicht für immer bleiben. Aber es gibt Momente, in denen jedes Wort überflüssig ist, weil wir es mit uns selbst tonlos sprechen. Weil wir uns sprechen. Und es war gut.
An diesem Abend fand sich ein Verband in der Auslage, Symbol für Heilung, die wir uns schenken, die wir uns schenken lassen, nachdem wir den Schmerz überwunden haben, Symbol dafür, dass eine Verwundung nur heilen kann, wenn wir sie anerkennen. Symbol für etwas, das wir anlegen, das uns hilft und wieder abgestreift werden kann. Symbol für die Kraft wieder ganz zu werden.
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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