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Life is too short for boring stories

8. Miteinander

 

Der Nebel hatte sich schwer und undurchsichtig über das Land gesenkt. Wo der Schnee die Lautstärke dämpft, da scheint der Nebel alles wie in Watte zu packen. Selbst nahe an der Auslage Vorbeigehende erscheinen schemenhaft. Bruchstück. Vereinzelung. Bist Du noch da? Die, die weiter weg sind, sind gar nicht mehr zu sehen, sind verhüllt, unsichtbar. Verschwindet ein Mensch, weil er nicht sichtbar ist?

„Genau so sinnlos, wie die Frage ob ein Baum ein Geräusch macht, wenn er umfällt und niemand da ist“, sagte Ruben vor sich hin, der von seiner Schnitzarbeit abgelassen hatte um nach Draußen zu sehen. Fragen ohne Bedeutung, letztlich. Fragen, die dennoch spannend sind und einen eine Weile beschäftigen können, wenn man denn will. Immer wieder. Niemals wird es eine befriedigende Antwort geben.

„Genau so sinnlos wie was?“, fragte Lilith, die ihr Buch sinken ließ. Eine kurze Weile hatte es gedauert, bis sie den Weg aus der Geschichte, die sie gerade las, zurück in den Raum und zu dem Satz gefunden hatte, den Ruben sagte. Eine Weile hatte es gedauert bis sie wieder da war. Es ist gut zu lesen und darinnen zu bleiben. Es ist gut dort zu sein, wo man ist.

„Ob ein Mensch weiter existiert, wenn er aus meinem Blickfeld verschwindet“, erklärte Ruben. Er arbeitete gerade am Jesuskind für ihre Krippe, denn es ist gut etwas mit seinen Händen zu machen. Das war seine Erklärung. Etwas, das auch eine Bedeutung hat. So wie eine Krippe für Weihnachten. Er hatte es schon lange geplant. Doch für ihn allein, das war ihm die Mühe nicht wert. Für sich selbst macht man sich viel weniger Mühe. Zumeist. Für Menschen, die einem nahestehen, schon eher. Freude zu bereiten, das ist der Hintergrund. Existiert die Freude denn, wenn man für sich ist. Fällt der Baum überhaupt. Lebt der Mensch weiter, der geht. Es gibt viele solcher Fragen.

„Existiert ein Mensch, den ich nur im Vorbeigehen sehe, für mich überhaupt, ganz gleich ob er bleibt oder geht?“, warf nun Samuel ein, „Hatte meine Großmutter ein Leben, so lange ich sie nicht besuchte? Wart ihr denn, so lange ich Euch nicht kannte?“ Er hatte seinen Laptop vor sich und unterbrach seine Arbeit ebenso, um sich am Gespräch zu beteiligen. Schweigen war im Raum gewesen, sachtes, einnehmendes Schweigen der Betriebsamkeit. Ruben schnitzte, Lilith las, Samuel arbeitete am Computer und Rebekka zeichnete. Alle vier waren da. Alle vier in ihre eigene Tätigkeit befangen. Waren sie für sich oder miteinander.

„Der Mensch ist klein und unbeholfen und begrenzt“, erklärte nun Rebekka, die ihren Blick vom Blatt vor ihr löste. Nicht nur Ruben war in Gedanken in der sogenannten Heilsgeschichte bereits einige Schritte weitergegangen, über das Geschehen, dessen Weihnachten gedacht wird, hinaus. Heilsgeschichte, eine Geschichte des Miteinander.

„Klein und unbeholfen und begrenzt“, wiederholte Samuel nachdenklich, „Es klingt so herabwürdigend. Wenn man bedenkt, was der Mensch alles erfunden hat. Was er an Großem geleistet hat, so meine ich, Du denkst zu schlecht vom Menschen oder einfach zu gering.“

„Klein und unbeholfen und begrenzt“, wiederholte Lilith ihrerseits, als wollte sie sich die Worte merken oder sie einfach noch mehr verstehen. Der kleine Prinz hatte es auch getan. Die Worte wiederholt um sie sich einzuprägen. Sie in seinem Herzen zu bewahren. „Es ist nicht gering denken vom Menschen, es ist ihn als ihn selbst zu denken. Der Mensch ist für sich allein all das, klein und unbeholfen und begrenzt. Aber er wird, wenn er sich zuwendet. Deine Großmutter lebt, wenn Du nicht bei ihr bist, ja, selbst wenn Du nicht an sie denkst. Aber ihr Leben ist anders, wenn sie Dir erzählt, selbst, wenn Du nur an sie denkst. Es ist anders in einem Miteinander bewahrt zu sein, selbst wenn es nur ein gedankliches ist.“

„Klein und unbeholfen und begrenzt“, wiederholte nun auch Ruben, „Und bedürftig. Es ist etwas ganz anderes, ob ich hier sitze, mit Euch und schnitze, oder ob ich das ganz alleine für mich zu Hause tue. Selbst wenn jeder von uns in sein eigenes Tun vertieft ist, so wissen wir doch, dass wir da sind. Dass wir nur den Blick zu heben brauchen um einander zu sehen. Dass wir nur das Wort aneinander zu richten haben, um in ein Gespräch zu finden. Es ist etwas anderes Miteinander zu sein.“

„Und selbst wenn wir das Miteinander verlassen, eintauchen in den Nebel und weggehen, dann bleibt es weiter“, ergänzte Lilith.

„So lange wir nicht aufeinander vergessen. Es ist gut zu wissen, dass man zurückkehren kann“, meinte Samuel, und seine Augen sprachen von Verlassenheit ebenso wie von dem Miteinander, das sie sich inzwischen geworden waren.

„Es ist gut da zu sein“, sagte Rebekka, die Samuels Blick beantwortete, so wie sie ihn erfuhr.

„Man kann sich ganz nahe sein ohne Miteinander zu sein“, meinte Lilith, „So wie in einem Wartezimmer. Die Menschen sitzen dicht nebeneinander, weil es so viele sind die warten, weil der Raum zu klein ist um Abstand zu halten. Wenn wenige Menschen in dem Raum sind, dann wird immer ein Stuhl ausgelassen. Wenn es möglich ist Abstand zu halten, dann halten die Menschen Abstand zum anderen. Ich will nicht, dass Du mich berührst, weil ich Dich nicht kenne. Sie lesen Zeitung oder sehen auf ihr Handy oder sie blicken zu Boden. Bloß nicht dem Blick des Anderen begegnen, so es sich vermeiden lässt. Ich will nicht, dass Du mich berührst, weil ich Dich nicht kenne. Und wenn dann einer reinplatzt, in die Gruppe der Wartenden in dem kleinen Raum, einer, der nichts weiß davon, dass man eine geheime, unausgesprochene Abmachung getroffen hat sich nicht zu berühren, einer, der das Gespräch sucht, und sei es noch so belanglos, der ruft Reaktionen hervor. Verwunderung. Befremden. Manche wenden sich demonstrativ ab. Andere wissen nicht wie sie damit umgehen sollen. Irritation. Er weiß nichts davon. Manche lächeln und freuen sich. Sie selbst hätten es nicht gewagt, aber sie haben ja auch von der Abmachung gewusst. Und dann verlassen sie das Wartezimmer. Es hat keine Bedeutung. Die, die sich an die Abmachung hielten, verschwinden, weil sie eigentlich auch nie da waren. Aber der eine, der sich nicht an die Abmachung hielt, der bleibt. Klein und unbeholfen und begrenzt. Vieles hat der Mensch erfunden und erlernt, aber doch bleibt er bedürftig. Nicht, dass die Existenz an sich aufhörte. Nicht, dass das Leben endet, wenn Du nicht mehr an mich denkst. Aber es ist dennoch, als würde ich dort hinaus gehen und der Nebel würde mich verschlucken, als hätte ich nie existiert, wenn das Miteinander aufhört. Ich für mich allein bin, aber in anderer Weise, als wenn Du da bist und Du zu mir sagst und mir Deine Aufmerksamkeit schenkst und Dein Mitdenken und Mitfühlen und Mitsein. Es ist anders im Miteinander zu sein.“

„Ist es nicht spannend?“, meinte nun Rebekka, ließ die Frage ein paar Augenblicke schweben, bevor sie sie wieder einfing, sie zu beantworten, auch wenn jeder wusste was sie meinte, letztlich, so konnte sie die Frage auch gleich selbst beantworten, „Vor ein paar Tagen noch wart ihr für mich nicht da, aber jetzt gibt es ein Miteinander, das ich mitnehme, auch wenn ich gehe, das mich bewahrt, selbst, wenn ich nicht da bin. Und wenn ich wiederkomme, dann muss ich mir keine Gedanken machen ob es noch existiert, das Miteinander, weil ich weiß.“

 

Und an diesem Abend fand sich ein Band in der Auslage, ein schmales Band, gebunden mit einer kleinen Masche, die man lösen und wieder binden konnte, aber es galt es zu tun, so man es wollte, jeder für sich, um ein Miteinander zu schenken.

Hier gehts zu Teil 9

Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten

Das gewebte Bild

Das leere Geschäft

Der Pilgerweg

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