6. Ich habe Zeit für Dich
„Hallo, ihr zwei!“, verkündete Rebekka freudestrahlend, als sie an diesem späten Nachmittag in das leere Geschäft stürmte, das nicht mehr ganz so leer war wie noch vor wenigen Tagen. Im Schlepptau hatte sie wieder Samuel, aber diesmal kam er freiwillig mit. Zumindest machte er keine Anstalten fliehen zu wollen.
„Hallo, ihr zwei!“, entgegnete Lilith schmunzelnd, denn es war nicht zu übersehen, dass Rebekka vor Freude und Energie nur so strotzte.
„Tut mir leid, aber ich kann jetzt nur mehr am späten Nachmittag kommen, weil ich einen Ausbildungsplatz gefunden habe“, sagte Rebekka leichthin, „Und der da“, damit wies sie auf Samuel, „der muss ja noch die Schulbank drücken. Ab und zu macht er es sogar, glaube ich.“
„Das ist ja großartig“, meinte Ruben, „Aber was heißt, Du glaubst?“
„Na ja, ganz so sicher kann man sich bei ihm nicht sein, und ich kann ihn ja auch nicht mehr kontrollieren“, erklärte Rebekka, während sie einen neckischen Blick zu Samuel warf. Ganz offensichtlich wollte sie ihn zu einer Reaktion herausfordern, zu irgendeiner, aber er blieb ruhig.
„Was ist mit Dir Samuel? Geht es Dir schon besser? Hast Du mit Deinen Eltern gesprochen? Hat sich irgendetwas geändert?“, führte Lilith alle Fragen an, die ihr durch den Kopf rasten.
„Das sind aber viele Fragen auf einmal“, entgegnete Samuel lächelnd, wohl um sich ein wenig Raum zu schaffen für seine Antworten, „Also, mit mir ist nicht viel, und ja, es geht mir besser, und ja, ich habe mit meinen Eltern gesprochen, und nein, es hat sich nichts geändert.“
„Das tut mir sehr leid für Dich“, erwiderte Ruben, „Aber woran liegt es? Haben sie Dir überhaupt zugehört?“
„Interessanter Weise, ja, zumindest für eine kurze Zeit“, meinte Samuel nachdenklich, als würde er immer noch nicht genau wissen ob er das nur geträumt hatte oder ob es wirklich geschehen war.
„Und warum hat sich dann nichts geändert? Haben sie Dich nicht verstanden?“, fragte Ruben weiter.
„Doch, doch, sie haben mich verstanden. Mehr noch. Sie zeigten sich einsichtig und gelobten Besserung“, erzählte Samuel.
„Ja, und weiter …“, forderte Lilith ein.
„Es änderte sich nichts. Für einen Moment hatte ich es tatsächlich geglaubt, auch wenn ich es hätte besser wissen müssen“, erklärte Samuel mit einem Hauch Resignation in der Stimme, „Aber dann habe ich mich einmal ganz ruhig hingesetzt und die Beiden beobachtet. Dabei habe ich eine Entdeckung gemacht. Es kann schon sein, dass sie selbst daran glaubten, dass sie wirklich einsahen, dass sich etwas ändern sollte, aber sie können nicht. Sie sind eingespannt in ein Rad, das sich immer weiter und weiter dreht, weil sie sich immer weiter und weiter bewegen. Und sie stehen da drinnen, als hätten sie Scheuklappen auf, so dass sie weder nach links noch nach rechts sehen können, sondern immer nur nach vorne. Da sehen sie das Rad, in dem sie sich befinden. Und weil sie nichts sehen als dieses Rad, denken sie, das ist die ganze Welt. Deshalb können sie auch nichts ändern. Eigentlich schade für sie.“
„Ja, das stimmt, sie verpassen so viel. Sie werden es erst merken, wenn sie nicht mehr die Kraft haben weiterzulaufen, und dann wird es für vieles zu spät sein“, sagte Lilith nachdenklich.
„Aber es macht nichts mehr“, erwiderte Samuel lächelnd.
„Und warum macht das nichts mehr?“, fragte Lilith weiter.
„Nachdem ich eine Zeitlang da so gesessen bin und sie beobachtete, gingen mir eben jene Überlegungen durch den Kopf. Ich schloss das Kapitel für mich ab und die Haustüre hinter mir. Die Kreditkarte steckte in meiner Hosentasche. Ich war also bereit für einen ausgedehnten Shoppingtrip“, begann Samuel zu erzählen, „Nur damit die Zeit verginge. Ich wollte mich auch ablenken, nicht weiter darüber nachdenken wie viel Elend man sich eigentlich selbst bereitet, indem man einfach das tut, wovon man glaubt, dass man es tun muss. Ich war auch schon fast im Shopping-Center, als ich an einer Auslage anhielt. Es war eine Konditorei. Eigentlich etwas, was mich nicht interessiert. Doch irgendetwas musste meine Aufmerksamkeit erregt haben. Bloß wusste ich nicht gleich was es war. Ein bestimmtes Gebäck zog meine Aufmerksamkeit an sich, und ich erinnerte mich plötzlich an Wärme und Lachen und Geborgenheit. Ein Bild kam, wie ich als kleiner Junge in der Wohnküche meiner Großmutter saß und genau diese Gebäck aß. Wie lange war ich nicht mehr bei ihr gewesen. Jahre mussten vergangen sein, doch plötzlich verspürte ich den ungeheuren Drang hinzugehen.“
„Und, hast Du es getan?“, fragte Lilith, denn es schien, als wollte er seine Erzählung an dieser Stelle abbrechen. Sie konnte und durfte hier nicht enden. Da musste noch mehr kommen.
„Ich ging hinein und kaufte dieses Gebäck. Das Päckchen in der Hand machte ich mich auf den Weg. Als ich vor der Türe stand kamen mir plötzlich Zweifel. Was sollte ich sagen, warum ich plötzlich da war? Was hatte ich für eine Erklärung warum ich so lange nicht gekommen war? Es gab keine. Keine, die wirklich einen Sinn ergab. Mutlos ließ ich die Hand sinken, die schon klingeln wollte“, erzählte Samuel weiter.
„Eine Erklärung. Braucht denn die Liebe eine Erklärung?“, fragte Ruben nachdenklich.
„Hast Du angeläutet?“, mischte sich nun Rebekka ein, die offenbar auch unbedingt wissen wollte wie die Geschichte ausgehen würde.
„Nein, ich habe nicht geklingelt“, erklärte Samuel, „Aber es war auch gar nicht notwendig, denn in dem Moment öffnete sich die Türe und meine Großmutter stand vor mir. Klein war sie geworden, dachte ich noch, aber da fiel mir ein, dass ich damals, als ich das letzte Mal bei ihr war, selber noch ein kleines Kind war. Die Perspektive hatte sich verschoben. Stirnrunzelnd sah sie mich an. Jetzt würden die Fragen kommen, auf die ich keine Antwort hatte. ‚Bist Du es Samuel?’, fragte sie nur, und da merkte ich, dass sie nur eine Weile gebraucht hatte mich zu erkennen. Und dann sagte sie nur, ‚Es ist so schön, dass Du da bist.’ Sie war gerade auf dem Weg zum Einkaufen gewesen, doch sie stellte ihren Einkaufskorb ab und bat mich hinein in die Wohnküche. Und wir aßen Gebäck und tranken heiße Schokolade, so wie damals. Und wir lachten und redeten und schwiegen. Alles habe ich ihr erzählt. Alles was mir auf der Seele brannte, und sie hörte nur zu, einfach nur zu. Und ich fühlte mich wohl und angenommen und geborgen. So wie damals. Doch ich wusste es anders zu schätzen. Aber da war noch etwas anderes. Ich merkte, dass es ihr wohl tat, dass ich da war. Sie ist ganz alleine seit mein Großvater gestorben ist. Normalerweise hätte ich diese Stunden irgendwo verplempert, doch jetzt machte ich ihr ein Geschenk und ich spürte, dass es das Beste war an diesem Tag, was ich mit meiner Zeit machen konnte.“
„Du hast etwas geschenkt, was nur Du schenken kannst, ein Stück Deines Lebens, Deine Zeit“, meinte Ruben.
Und an diesem Abend wurde eine Uhr in die Auslage gestellt, eine Uhr ohne Zeiger, denn den Moment zu leben und die Zeit zu vergessen, das ist ein Geschenk, das man nirgendwo kaufen kann. Man kann es nur tun. Eine Entscheidung treffen, dass ich für Dich da sein will und darin meine Zeit lege.
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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