Jeden Tag habe ich sie gesehen, jeden Tag einen Weg gesucht, sie anzusprechen. Würde ich einen finden? Würde ich ihn rechtzeitig finden?

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Life is too short for boring stories

Ich begann also darüber nachzudenken, sie anzusprechen. Doch es war nicht leicht. Es hatte sich ein gewisser Rhythmus eingestellt. Sie bestieg den Zug, ging zu ihrem Platz, lächelte mir zu, nickte wohl kurz zur Begrüßung, zumindest angedeutet, setzte sich und nahm ihr Buch zur Hand. Dasselbe Prozedere geschah jeden Morgen. Sobald sie in ihre Lektüre vertieft war, wagte ich nicht mehr, sie anzusprechen. Doch dies behielt sie bei, bis ich aussteigen musste. Wann gab es einen Moment, den ich für mich nutzen konnte? Es gab eigentlich nur eine mögliche Antwort, dieser, in dem sie den Platz erreichte, mir zulächelte und sich setzte, bevor sie anfing, in ihrer Handtasche nach dem Buch zu kramen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, wollte ich es nicht gleich beim ersten Mal vermasseln. So war zumindest meine Einschätzung. Deshalb beschloss ich, diesen perfekten Augenblick zu ergreifen, wenn er sich mir bot.  

Am nächsten Tag schien sie abgelenkt, ihr Lächeln fahrig und ihr Blick zerstreut. Ich war mir sicher, das war er nicht, der perfekte Moment. Deshalb harrte ich des nächsten Tages. Doch diesmal fiel ihr die Tasche aus der Hand, so dass die Chance wieder vertan war. Den Tag darauf war es ungünstig, weil genau in diesem Augenblick eine Nachricht eines Kunden eintraf, die es sofort zu beantworten galt. „Morgen“, sagte ich mir. Doch dies war ein Samstag. Ich hatte eine ganze Woche vertrödelt, doch so war es mir möglich, meine Anrede zu präzisieren. Damit verbrachte ich die nächsten Tage, nicht nur das Wochenende. Zuletzt fiel mir ein, dass ich den Einfluss des Wochentages nicht unterschätzen dürfte. So beschloss ich an einem Dienstag, dass ganz bestimmt der Montag der beste Tag wäre, sie anzusprechen, denn da wäre sie offen und bereit dafür, nach einem – wie ich hoffte – entspannten Wochenende. Am folgenden Montag befand ich für mich, dass dies wohl nicht der Fall war, denn sie wäre sicher bereits belastet von den Gedanken an die Arbeit, die sie zielstrebig ansteuerte. Deshalb disponierte ich um, den Freitag zum richtigen Wochentag kürend, denn da würde sie die Gedanken an die Arbeit hinter sich gelassen haben und sich bereits aufs Wochenende freuen. Doch gerade an diesem Freitag meinte ich eine fast unmerkliche, aber dennoch vorhandene Anspannung in ihren Zügen zu erkennen, die mir schon so vertraut waren. Dies war also auch nicht stimmig. Bei meinen Überlegungen bezüglich des kommenden Wochenendes hatte ich vernachlässigt, dass sie dennoch noch einen ganzen Arbeitstag vor sich hatte. Das galt allerdings für jeden Wochentag. Abwechselnd dachte ich nun über alle anderen Arbeitstage der Woche nach. So verging Woche um Woche, Monat und Monat, Frühling, Sommer und Herbst. Wieder war es November und bitter kalt. Es war ein Montagmorgen, an dem ich mich wagemutig, in meinen Augen sogar todesmutig, entschloss, heute müsste es sein, heute oder nie. Ich war so wildentschlossen, dass schon ein großes Unglück geschehen müsste, das mich von meinem Vorhaben abbrachte. Und genau dieses trat auch ein. Es war völlig unspektakulär, aber das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Sie erschien nicht. Ich war verzweifelt, unfähig mich auf irgendetwas zu konzentrieren. All die Monate hatte ich nun die Chance gehabt und sie nicht ergriffen. Das war nun die Strafe dafür. Es dauerte bis zum nächsten Morgen, bis ich mich beruhigte und mir glaubhaft versicherte, es wäre ja nur einmal gewesen. Vielleicht hatte sie anderes zu tun gehabt oder frei. Doch sie kam auch an diesem Morgen nicht. „Sie ist krank“, redete ich mir ein. Zwei Wochen lang hielt mich dieser Gedanke aufrecht, doch als sie in der dritten Woche immer noch nicht auftauchte, war ich überzeugt, sie nie wieder zu sehen. Warum nur war ich so unentschlossen gewesen? Wieso hatte ich nicht einfach die erstbeste Gelegenheit am Schopf gepackt? So haderte ich mit mir und dem Schicksal, das ich selbst verschuldet hatte. „Du hast es vermasselt, für immer“, klagte ich mich selbst an. Dann endlich sah ich über den Sitz zum Gepäcknetz, das es in diesem altmodischen Zug noch gab. Lag da nicht etwas darinnen? Sollte ich diesen Gegenstand nicht kennen? Gab es vielleicht doch noch Hoffnung, sie wiederzusehen? Rasch sah ich mich um, ob ich auch nicht beobachtet wurde, doch alle schauten aus dem Fenster oder auf ihr Handy. Niemand interessierte sich für den Anderen. Dann schnappte ich mir das Ding und ließ mich wieder auf meinem Sitz nieder.

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