Es geschah an einem bitterkalten Tag Ende November, als ich sie zum ersten Mal sah, in dem Zug, in dem ich seit Kurzem fuhr. Die Firma, für die ich arbeitete, war umgezogen. Günstiger gelegen für mich als zuvor, denn so konnte ich beinahe von Haus zu Haus mit dem Zug fahren. Der Bahnhof in der Nähe meines Hauses und die Haltestelle, die nur einen kurzen Fußweg zu meinem Arbeitsplatz bedeutete. Wäre all das nicht passiert, wäre ich ihr wohl nie begegnet. Aber an diesem Tag im November sah ich sie und war sofort verzaubert. Eingehüllt in einen schwarzen langen Mantel, der nicht zu verbergen vermochte, dass sie schlank war. Alles an ihr wirkte sanft, grazil, weich und warm, vor allem die langen dunklen Haare und die melancholisch anmuteten Augen, taten es mir an.
Aus den Augenwinkeln, nicht direkt natürlich, beobachtete ich sie, während ich mir den Anschein gab, ruhig und konzentriert in meinem Buch weiterzulesen. So konnte ich sehen, dass auch sie ein Buch aus ihrer großen Handtasche nahm, um sich darin zu vertiefen. Den Titel konnte ich nicht entziffern, zumal sie es ja aufgeschlagen hatte, aber es war eindeutig ein altes Buch. Antiquarisch nahm ich an. Was mir ebenfalls sehr sympathisch war. Woher sie wohl kam? Sie war zwei Stationen nach mir eingestiegen? Da war ein kleiner Ort, der übernächste zu meinem, also nicht weit weg. Dennoch unmöglich sie dort zu finden. Und wo wollte sie hin? Das war noch viel schwieriger, denn als ich mich anschickte, auszusteigen, blieb sie sitzen. Offenbar fuhr sie noch weiter. Aber wohin? Es gab noch fünf Stationen nach meiner. Sie könnte bei jeder aussteigen.
Dann kam das Wochenende, denn es war ein Freitag gewesen, an dem sie zum ersten Mal gesehen hatte. Es war nur dies eine Mal gewesen und dennoch beherrschte sie meine Gedanken, während dieser zwei Tag, in denen ich nicht zur Arbeit fuhr und sie dementsprechend nicht sah. Meine Phantasie malte sich die verschiedensten Szenarien aus. Dass sie allein lebte, in einer kleinen, engen Wohnung, einsam und verlassen. Oder dass sie ein Haus hatte und eine große Familie. Eislaufen würden sie gehen, bei der Kälte. Oder Schlittenfahren. Dann würden sie Tee trinken oder heiße Schokolade. Oder dass sie in einer WG lebte und am Wochenende ihrem Hobby nachging. Z.B. dem Malen oder der Photographie oder dem Tanz. Line Dance würde zu ihr passen. Und was sie wohl arbeitete? Irgendetwas, das zu ihrer Anmut und Grazie passte. Goldschmiedin vielleicht oder Buchbinderin. Deshalb auch das antiquarische Buch. Dann war das Wochenende endlich vorbei und ich sah sie tatsächlich wieder. Zum Glück fuhren nie viele Menschen mit diesem Zug. So konnte ich den Platz einnehmen, den ich schon am Freitag innehatte. Zwei Stationen lang bangte ich. Was, wenn es nur einmalig gewesen wäre, dass sie mit diesem Zug gefahren war? Vielleicht hatte sie nur dieses Mal etwas an diesem Ort, an den sie gefahren war, zu erledigen gehabt. Ich war mir während der letzten zwei Tage so sicher gewesen, ich würde sie wiedersehen, dass ich einen anderen Gedanken erst gar nicht zugelassen hatte. Doch plötzlich war er da. Was, wenn es meine erste, einzige und letzte Chance gewesen wäre, sie anszusprechen, kennenzulernen? Warum nur bin ich so zurückhaltend und schüchtern. Jeder andere hätte die Gelegenheit sofort am Schopf gepackt, denn was könnte passieren, außer dass man eine Abfuhr bekam. Diese Fahrt von der Station, bei der ich den Zug bestieg und jener, bei der sie denselben betreten hatte, dauerte nur zehn Minuten. Es genügte, mich völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zuletzt war ich mir sicher, dass ich sie endgültig verloren hatte. Und das, obwohl ich noch nicht einmal mit ihr gesprochen hatte. Wie atmete ich auf, welche Erleichterung durchströmte mich, als sie tatsächlich einstieg und tatsächlich denselben Platz einnahm, wie am Freitag. Ihr Blick blieb sogar einen Moment an mir hängen und ein zurückhaltendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Es war für mich, dieses Lächeln. Dann erst wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Buch zu. Ich war so selig, so rundherum glücklich, an diesem Tag, dass ich überzeugt war, dass es nicht besser gehen konnte. Wunschlos war ich, jetzt und auch einige Zeit danach. Es genügte mir, sie zu sehen, das Lächeln mitzunehmen und es zu erwidern. Mehr brauchte es nicht. Doch der Mensch hält das Glück nicht aus. Er sinnt immer darüber nach, ob es denn nicht ein Mehr gäbe, statt sich mit dem Beständigen zu begnügen. So erging es auch mir, indem sich der Wunsch in mir zu regen begann, sie kennenzulernen.