Als sie nicht mehr auftauchte, beschloss ich, sie zu suchen. Es war einfacher als gedacht. Würden sich meine Hoffnungen erfüllen?

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Life is too short for boring stories

Rasch sah ich mich nochmals um, bevor ich es wagte, meinen Schatz in Augenschein zu nehmen. Es handelte sich tatsächlich um ihr Buch. Ich schlug es auf. Vielleicht würde ich einen Namen darin finden, zumindest das. Doch da war noch mehr, mehr als ich mir erträumen ließ, da stand nämlich nicht nur ihr Name, Vor- und Zuname, sondern auch ihre Anschrift, feinsäuberlich in die rechte obere Ecke der ersten Seite geschrieben. Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte mich, denn es war noch nicht alles verloren, noch lange nicht. Spontan stieg ich aus dem Zug aus, während ich bekannt gab, dass ich heute nicht ins Geschäft kommen würde. Wann ich denn wiederkäme, wurde ich gefragt. Es würde sich zeigen, sagte ich nur und legte auf. Dann nahm ich den nächsten Zug zurück und stieg an der Haltestelle aus, an der sie immer eingestiegen war, zwei Ortschaften von meinem Heimatort entfernt. So nahe und doch so unbekannt. Google Maps half mir, die im Buch angegebene Adresse zu finden. Es war ein kleines Haus am Ortsrand. Unverzüglich läutete ich, doch es rührte sich nichts. Nach wenigen Minuten, in denen nichts geschah, stellte sich die altbekannte Verzweiflung wieder ein. Vielleicht sollte ich warten? Aber wie lange?  

Da öffnete sich das Fenster des Nebenhauses und eine alte Frau schaute heraus.
„Sind Sie der Mann aus dem Zug?“, fragte sie.
„Ja, der bin ich“, antwortete ich, ohne zu zögern, denn der war ich wohl. Sollte das alles arrangiert sein?
„Die Katharina hat mir gesagt, wenn ein Mann kommt, dann solle ich ihn das fragen und wenn er es ist, soll ich ihm den Brief geben“, erklärte die Nachbarin, woraufhin sie mir einen Umschlag reichte. Rasch riss ich ihn auf und überflog den Inhalt.
„Lieber Unbekannter!
Ich habe mich gefreut, jeden Morgen, den wir uns im Zug sahen, habe gewartet, dass Du mich ansprichst, weil ich den Eindruck hatte, dass eine besondere Verbindung zwischen uns besteht. Doch von Tag zu Tag zweifelte ich mehr an meiner Einschätzung. Ich habe lange durchgehalten, doch jetzt kann ich nicht mehr. Falls ich mich nicht geirrt habe, findest Du die Adresse meines Aufenthaltsortes auf der Rückseite diese Blattes.
Ich sage trotzdem danke, für die Hoffnung, die Du mir schenktest,
Katharina.“
 

Rasch drehte ich das Blatt um und überflog die Adresse. Das war gut hundert Kilometer weit weg, doch auch das hielt mich nicht ab. Ich dankte der Nachbarin, fuhr nach Hause und von dort mit dem Auto weiter. Nach zwei Stunden Fahrt und etlichen Umwegen, langte ich bei einem einsamen Haus im Wald an. Katharina musste den Motor gehört haben, denn sie stand bereits vor der Türe, als hätte sie mich erwartet. Langsam ging ich auf sie zu, bis wir uns gegenüberstanden. Wortlos umarmte sie mich. Es kam so unvermutet, dass ich es nicht schaffte, ihre Umarmung zu erwidern. Endlich ließ sie mich los und sah mich an.
„Ich bin froh, dass Du da bist, froh, mich nicht geirrt zu haben“, erklärte sie.
„Ja, ich bin da und ich könnte mich ohrfeigen, dass ich Dich nicht schon viel früher angesprochen hatte, aber Du hast mir diese Chance gegeben“, erwiderte ich, endlich Worte findend, „Aber was ich wissen möchte, was hast Du nicht mehr ausgehalten?“
„Ich habe vor etwas mehr als einem Jahr meinen Mann und meine beiden Söhne bei einem Autounfall verloren“, begann sie zu erzählen, mühsam die Tränen zurückhaltend, „Von einem auf den anderen Moment, war mir alles genommen worden, was ich liebte. Ich war verzweifelt. Man sagte mir, nach einer Weile, ich solle doch wieder arbeiten gehen, das bringe mich auf andere Gedanken. Das tat ich dann auch. Als ich Dich zum ersten Mal im Zug sah, da war mein erster Arbeitstag. Die Beschäftigung half nicht, aber dieses Treffen mit Dir, das mir das Gefühl gab, wahrgenommen zu werden, jenseits meines Schmerzes. Es gab eine Chance. Aber selbst Du kannst wahrscheinlich nicht verstehen, wie schwer es ist, solch ein Schicksalsschlag.“
„Doch, das kann ich“, sagte ich mit Gewissheit.
„Wie das? Hast Du auch Deine Familie verloren?“, fragte sie nach.
„In gewissem Sinne schon“, antwortete ich, „Letztes Jahr sind meine beiden Hunde kurz nacheinander verstorben.“
„Deine Hunde? Du meinst, Du kannst mich verstehen, weil Deine Köter gestorben sind?“, fragte sie und ließ ein böses, grimmiges Lachen folgen.
„Ja, das meine ich, aber ich meine, dass Dein Verstehen nicht über Dich selbst hinausgeht“, erwiderte ich. Dann drehte ich mich um und ging zu meinem Auto. Ich wollte so schnell wie möglich weg von hier und der Erinnerung. Wie sehr ich mich doch geirrt hatte.

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