„Geschichte hautnah“ nannte sich die Serie von Vorträgen, die eine kleine Gruppe engagierter Frauen in der Gemeinde ins Leben gerufen hatte. Man muss hinzufügen, gegen massiven Widerstand. „Wozu brauch ma des?“, war noch eine der allernettesten Kommentare, die einer der Gemeinderäte bei der Vorstellung des Konzepts zum Besten gegeben wurde. „Und wie erklären wir unseren Mitbürger*innen, dass wir so einen Schwachsinn finanzieren?“, fand sich eine andere Gegenstimme. „Das einzige, was zu finanzieren ist, ist der Saal“, meinte Lisa, eine der vier Initiatorinnen, „Und wir haben es extra so gelegt, dass es ein Tag ist, an dem er sowieso leer steht. Schließlich wurde der Gemeindesaal genau für solche Zwecke gebaut und diesen Bau haben auch die Bürger*innen finanziert. Wie wollen sie diesen erklären, dass er nun leersteht und nichts damit geschieht?“ „Nun, ganz so ist das nicht, mein wertes Fräulein“, mischte sich nun endlich der Bürgermeister ins Gespräch ein, „Wir haben viele Veranstaltungen angedacht.“ „Erstens bin ich kein Fräulein, wie Sie es so despektierlich auszudrücken pflegen, und schon gar nicht das Ihre“, erwiderte Lisa promt, „Aber wesentlich ist, angedacht. Seit der feierlichen Eröffnung vor zwei Monaten gab es darin keine einzige Veranstaltung, er steht also nutzlos da, verschlingt aber trotzdem Fixkosten.“ Zuletzt fand sich doch noch eine Mehrheit, die das Projekt unterstützte, aber unter der Bedingung, dass es sich ihnen auszahlt, was auch immer das bedeuten mochte.
Bereits am nächsten Tag wurden eifrig Plakate aufgehängt und zum ersten Treffen eingeladen. Als Thema wurde die Aufklärung gewählt. Damit hatte sich Lisa gegenüber ihren Freundinnen durchgesetzt, weil sie ihnen versichern konnte, dass dieser geschichtliche Abschnitt eine entscheidende Wende in der europäischen Geschichte markierte. Als Referenten vermochte sie zwei junge Geschichtsstudenten gewinnen. Beide waren groß, durchtrainiert und gutaussehend, wobei Tim, der eine der beiden, dunkles Haar und entsprechend dunkle Augen, während Tom, der andere, helles Haar und blaue Augen hatte. So gut diese Veranstaltung auch geplant war, so blamabel fiel sie aus, denn außer den vier Begründerinnen der Vortrags- und Diskussionsreihe waren nur weitere zwei Frauen zugegen. „Seht ihr, das wird nichts!“, hatte der Bürgermeister am nächsten Tag verkündet. „Aber er wird denn so schnell aufgeben“, meinte Lisa spöttisch, „Bei Ihnen hat es schließlich zehn Jahre gedauert, bis sie endlich auf den Bürgermeisterthron klettern konnten. Also kann man nicht von einem Mal auf alles schließen.“ Beleidigt rauschte er davon. Das war zu erwarten gewesen. Was Lisa allerdings mehr Sorgen machte, als die Denkweise des Bürgermeisters, war die der Zuhörenden. Sie selbst hatte sich in die Thematik der Aufklärung etwas eingelesen. Deshalb erschien ihr der Vortrag von Tim und Tom sehr oberflächlich. Allerdings hatte nur sie etwas zu beanstanden gehabt. Die restlichen Damen hingen an den Lippen der beiden, als würden sie das Evangelium verkünden. Darüber hinaus war der Vortrag monoton und einschläfernd gewesen. Als Lisa ihre Freundinnen darauf ansprach, musste sie sich gefallen lassen, dass sie wohl keine Ahnung habe und sie selbst wären begeistert gewesen, sowohl inhaltlich als auch formal. Deshalb müssten die beiden das unbedingt weitermachen. Lisa ließ es damit auf sich beruhen, was sie aber nicht davon abhielt, die beiden Studenten sehr genau zu beobachten. Beim zweiten Vortrag, der den ersten Weltkrieg zum Thema hatte, war der Saal, der mindestens 50 Leute fasste, zum Bersten gefüllt. Lisa war zunächst sehr zufrieden mit der Entwicklung. Doch warum fanden sich ausschließlich Frauen im Publikum? Der Vortrag war in ihren Augen ebenso langweilig und nichtssagend wie der erste. Dennoch zeigten sich die meisten begeistert. Die anschließende Diskussion erschöpfte sich in Lobhudeleien für Tim und Tom. „Ich denke, dass die meisten nur kommen, um Tim und Tom anzuhimmeln“, meinte Lisa in der anschließenden Reflexion. „Ach so ein Unsinn“, erklärte Marin, eine ihrer Freundinnen, „Der Vortrag war doch großartig.“ „Ach ja, tatsächlich? Dann sag mir mal, was war der Auslöser des Ersten Weltkrieges“, hakte Lisa nach. „Also wirklich, Du kannst doch nicht erwarten, dass ich mir jedes kleinste Detail merke“, gab Marin verschnupft zurück. „Nein, das nicht, aber ich denke, dass das kein kleines Detail ist, aber wenn Du nur auf Tims Augen konzentriert warst …“, warf Lisa ein. „Das ist die Höhe“, ereiferte sich Marin. „Ist schon gut, ich werde mir was überlegen“, erklärte Lisa. „Und was soll das sein?“, fragte Marin. „Ihr werdet schon sehen“, erklärte Lisa und lächelte geheimnisvoll.