Vor Zeiten waren, so heißt es bei den Gebrüdern Grimm, und ich habe es darselbst nachgelesen und bestätigt gefunden, ein König und eine Königin, die sich sehnlichst ein Kind wünschten, aber ihr Wunsch ging nicht und nicht in Erfüllung, bis die Königin einmal im Bade saß und ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und ihr versicherte, sie würde übers Jahr eine Tochter zur Welt bringen. Und so wie es der Frosch gesagt hatte, so geschah es.
In Wahrheit war, und das weiß man spätestens seit dem Froschkönig, der Frosch ein potenter Prinz, oder auch nur ein, von der schweren Feldarbeit gestählter, Bauernbursch, der es der Königin erstmals so richtig besorgte. Der König hingegen, dessen Arterien vom übermäßigen Fleisch- und Alkoholkonsum bereits arg verstopft waren, konnte solche Leistungen nicht mehr erbringen. So waren sie es sich beide zufrieden. Die Königin, da sie endlich einmal so richtig durchgevögelt worden war, der Bauernbursch, der seine überschäumenden männlichen Kräfte an die Frau bringen konnte, und der König, der meinte, seinen Teil zum Erhalt der Dynastie beigetragen zu haben.
Die Königin gebar also ein Mädchen, das so schön war, dass der König sich vor Freude nicht zu lassen wusste und ein großes Fest anstellte. Er lud nicht bloß seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheimbleiben.
In Wahrheit jedoch waren jene weisen Frauen, zumindest die zwölf Geladenen, die Garantinnen dafür, dass der König an der Macht blieb. Sie hatten es geschafft dem Volk einzureden, dass so lange jene Frauen ihre Hand schützend über dem Königreich hatten, es ihnen wohl erginge. Die dreizehnte hingegen, für die es angeblich keinen Teller mehr gegeben hatte, meldete sich immer wieder kritisch zu Wort. So forderte sie einen Mindestbildungsstandard selbst für die niedrigsten Bevölkerungsschichten, eine Aufhebung der Feudalherrschaft und damit der Unterdrückung, die Demokratie und die Selbstbestimmung. Alles in allem schrecklich umstürzlerische Gedanken. Andererseits war sie zu mächtig und einflussreich, denn sie hatte den Menschen so viel Gutes getan, sie gelehrt sich gesund zu ernähren und wie sie sich selbst von allen möglichen Krankheiten heilen konnten, wie sie ihr Land am ertragreichsten bestellen konnten. Aber das Schlimmste war, dass sie sie auf den Gedanken brachten, zu viele Abgaben an den König zu zahlen, der doch eigentlich für nichts Nutze war. Damit war sie nicht nur dem König selbst ein Dorn im Auge, sondern auch den Apothekern, den Zulieferern in der Landwirtschaft und vielen anderen. Deshalb durfte sie nicht eingeladen werden, denn sie hatte die Angewohnheit ihre aufwieglerischen Reden sogar bei Hofe zu halten, so dass im Anschluss daran die Dienstboten in Scharen davonliefen. Und wie jeder weiß, ist es ungeheuer schwer gute Dienstboten zu finden.
Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem anderen was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen worden war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: „Die Königstocher soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrighatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.“
Soweit die Mär, die wahrhaftig eine Mär ist, denn es trug sich so zu, dass jene elf weisen Frauen dem Mädchen alles wünschten, was notwendig war, sie standesgemäß unter die Haube zu bringen, denn nur das garantierte, dass die Dynastie bestehen blieb, pfuschte ihnen mittendrinnen die nicht Geladene durch ihren Wunsch ins Handwerk: „Möge Dein Geist wach und offen sein für die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten in dieser Welt. Mögest Du immer den Wunsch haben dazuzulernen und Dir niemals den Mund verbieten zu lassen.“ Sprachs und verschwand. Das war nun gar nicht gut. Eine Prinzessin, die wissbegierig und kritisch ist, womöglich gegenüber den sozialen Verhältnissen, das konnte man nun gar nicht brauchen. Deshalb versuchte die zwölfte, die noch nicht gesprochen hatte, durch ihren Spruch zu mildern, was die Dreizehnte dazwischengefunkt hatte. So wünschte sie ihr, dass die Last des Faktischen sie auf den Weg der Tugend zurückbrächte, nach einer angemessenen Zeit der Rebellion. Damit ward auch zugleich die Pubertät erfunden, aber das nur ganz nebenbei.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
***