Lukas wog die Schachtel in seinen Händen, drehte sie immer wieder hin und her, führte die Hand an den Griff, um sie zu öffnen, zog sie aber wieder zurück. Sybille und Rolf saßen ruhig neben ihm, als spürten sie, dass er seine Entscheidung selbst treffen musste. Endlich überwand er sich und hob den Deckel. Sofort quollen im unzählige Briefe entgegen. Es mussten wohl 100te sein, die seine Mutter in den letzten 20 Jahren verfasst hatte. Nicht einen einzigen hatte sie abgeschickt, aber sie hatte diese auch nicht entsorgt, sondern sorgfältig aufbewahrt. Ganz zuoberst lag einer, der aussah, wie eine Pate. Deshalb entschloss Lukas sich, diesen zuerst zu lesen. Entschlossen öffnete er diesen, faltete den darin enthaltenen Briefbogen auseinander und sah zunächst, dass das Datum identisch war mit dem Tag, an dem seine Eltern gestorben waren. Dann begann er zu lesen.
„Liebster Lukas!
Wenn Du diese Zeilen liest, heißt das, dass ich tot bin, aber nicht nur ich, sondern Dein Vater und ich. So sehr er mich auch unser ganzes Eheleben lang unterdrückt hatte, diese letzte Entscheidung habe ich für ihn getroffen, für ihn und für mich. Es war der einzige Weg, dieser Tyrannei endlich und endgültig zu entkommen, doch ich will Dir die Geschichte von Anfang an erzählen, eine Geschichte, vor der ich Euch, Dich und Deine Schwester, bisher bewahrt hatte, denn ihr solltet nicht damit belastet werden, doch wenn ich möchte – und ich möchte es -, dass Du mich verstehst, muss ich Dich nun endlich einweihen.
Ich war gerade 16 Jahre alt, als ich in der Schlosserei Deines Vaters bzw. damals noch Deines Großvaters zu arbeiten begann, als kleine Sekretärin. Dein Vater warf ein Auge auf mich und wie er es gewohnt war, nahm er sich, was er wollte. Egal ob es sich um Dinge oder Menschen handelte, er packte zu, ohne weiters zu fragen. In meinem Fall bedeutete das, dass er mich vergewaltigte, mehrmals. Es waren schwere Zeiten und wenn ich zu meinen Eltern gegangen wäre oder gar gekündigt hätte, wäre ich von meinem Vater geschlagen worden. Und anzeigen? Wer hätte mir geglaubt? Mir, einer kleinen Tippmamsel oder ihm, dem Unternehmersohn, der jedes Mädchen haben könnte. Doch eines Tages konnte ich es nicht länger verheimlichen, denn ich stellte fest, dass ich schwanger war. Daraufhin ging mein Vater zu ihm und erklärte ihm die Lage. Er hörte ruhig zu und erklärte sich bereit, mich zu heiraten. Zunächst war ich verblüfft, aber es war eigentlich recht leicht zu verstehen. So bekam er den gewünschten Nachfolger, musste mich weder in der Firma bezahlen, noch eine Putzfrau oder Köchin für seine privaten Bedürfnisse anstellen. Es war also die billigste und praktikabelste Lösung für ihn. Dass er mich nie als etwas anderes, als eine billige Arbeitskraft gesehen hatte, ließ er mich immer spüren. Nie hatte er ein gutes Wort für mich übrig, geschweige denn ein liebevolles, aber als ihr auf die Welt gekommen wart, da schien mein Leben – trotz allem – endlich einen Sinn zu haben. Ihr wart und seid meine Freude, meine einzige. Du kannst Dir vorstellen, wie sehr er sich hintergangen gefühlt hatte, als Du es ablehntest, die Firma zu übernehmen. Du warst der erste Mensch, der es tatsächlich wagte, gegen ihn zu handeln. Wenn ich jetzt daran denke, dann hätte ich mit Dir gehen sollen, doch ich habe es nicht geschafft. Zu sehr war ich in meiner Angst verstrickt. Doch jetzt habe ich keine Angst mehr. Ich werde die Welt von einem Tyrannen und mich aus der Unterdrückung befreien. Ich würde mir nur wünschen, dass Du mir verzeihen kannst und mir glaubst, dass ich Dich immer geliebt habe, Dich und Deine Schwester.
In innigster Liebe,
Deine Mama“
Kraftlos ließ Lukas den Brief sinken. „Wenn ich auch nur eine Ahnung gehabt hätte, ich hätte sie befreit oder ich hätte sie nicht im Stich gelassen“, meinte er, „Wie töricht und engstirnig ich doch war.“ Und endlich flossen auch die Tränen. Sybille nahm ihn einfach in den Arm. Lukas spürte wie gut es ihm tat. Es konnte all das Versäumte nicht mehr rückgängig machen, aber er konnte dafür Sorge tragen, dass er sich nie wieder vom Augenschein blenden ließ, nicht von einer ersten Einschätzung, sondern den Dingen auf den Grund ging, um wirklich zu verstehen. Wie gut war es doch gewesen, dass das Internet nicht funktioniert hatte, an diesem einen Nachmittag.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg


Alles ganz normal! Geschichten aus dem Leben
***