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Life is too short for boring stories

Marianne fand ihren Mann geistesabwesend auf der Couch sitzend vor, als sie von der Arbeit nach Hause kam, den Brief immer noch in Händen haltend, den Blick ins Leere gerichtet. Sanft nahm sie ihm das Schriftstück ab und las es sorgfältig. Dann setzte sie sich neben ihn, strich ihm zärtlich über den Rücken und meinte: „War es nicht das, was Du Dir immer gewünscht hattest? Freust Du Dich gar nicht?“ „Ja, natürlich freue ich mich und es ist das, was ich mir immer gewünscht hatte, aber es kommt mir so unwirklich vor, nach all den Jahren“, antwortete er. „Dann melde Dich bei ihm, wenn Du Dich wieder gefasst hast“, schlug Marianne vor. Das tat Willi Worschak. Und bereits wenige Monate später konnte man sein Buch in vielen Auslagen der Buchhandlungen sehen. Es wurde intensiv beworben, intensiv genug, dass sein Name auch auf den Bestsellerlisten auftauchte. Er musste keine Hilfsarbeiten mehr ausführen, sondern war vielmehr damit beschäftigt, Lesungen und Signierstunden zu absolvieren.

„Wollen wir uns ein kleines Häuschen kaufen, irgendwo am Stadtrand, mit Wasser für uns und eigenem Bad und Clo?“, fragte er Marianne eines Abends, „Wir können es uns jetzt leisten.“ „Wenn Du das möchtest“, erwiderte seine Frau bloß, „Ich habe immer gerne hier gewohnt, aber ich würde mich auch dort eingewöhnen.“ Bald darauf zogen sie um. Es war wirklich ein kleines Häuschen, aber viel größer, als ihr bisheriges Heim. Die Kinder kamen auf Besuch. Sie saßen im Garten und tranken Kaffee, ihrem Garten. Marianne bot Kuchen an. Eis für die Enkelkinder, die draußen spielten, in ihrem Garten, ohne weitere Kinder. Des Abends konnte sich Willi Worschak ein Bier gönnen. Auch noch ein zweites, was früher nicht möglich gewesen war, wenn er denn gewollt hätte. Dann gingen sie schlafen. Es war schön, friedlich, idyllisch, aber auch irgendwie seltsam.

Als sie eingezogen waren, hatten sie natürlich versucht mit den Nachbarn in Kontakt zu treten. Sie hatten ein Geschenk vorbeigebracht und zum Kaffee geladen, doch keiner hatte die Einladung angenommen. Jeder blieb für sich. Niemand wusste etwas vom Anderen. Die Menschen, die doch nur wenige Meter weiter wohnten, schienen so unendlich weit entfernt zu sein. Man brauchte einander nicht, war sich selbst genug, so schien es. Natürlich sah er, dass seine Nachbarn Besuch empfingen, aber der kam mit dem Auto und fuhr wieder. Er begann sich zu fragen, wie es der Frau Wotrawa ging und der Franziska, der Tochter, ihrem Mann. Und er vermisste das Tock, tock, tock des Stockes vom alten Prikopa. „Opa“, sagte seine jüngste Enkeltochter Josefine eines Tages zu ihm, „Es ist sehr schön bei Euch, aber damals, dort, wo ihr vorher gewohnt habt, da waren am Spielplatz immer so viele Kinder. Da sind nur wir. Wo sind hier die anderen Kinder?“ „Sie spielen alle in ihrem eigenen Garten“, antwortete der Großvater. „Aber ist es nicht schöner gemeinsam zu spielen?“, fragte Josefine weiter. „Ja, das ist es wohl“, gab er ihr recht. Josefine schien sich genauso unbehaglich zu fühlen wie er. Bei aller Beengtheit, bei allem Ärger, war man doch auf gewisse Weise verbunden gewesen. Man nahm teil am Schicksal der anderen, so wie diese an seinem eigenen. Freundschaften entstanden. Natürlich auch Feindschaften. Aber fast niemals Gleichgültigkeit. Es war schwer, gleichgültig zu sein, wenn man dasselbe Clo benutzte und das Wasser teilte, unumgänglich, dass man sich begegnete und wahrnahm.

„Wie geht es Dir?“, fragte Willi Worschak seine Frau, als sie an diesem Abend, wie gewohnt, auf der Couch saßen. Der Fernseher blieb ausgeschalten. Daran hatten sie sich noch nicht gewöhnt. In der Wohnung zuvor hatten sie keinen gehabt. Das Radio hatte ihnen immer genügt. „Gut“, antwortete Marianne kurz, doch etwas verwundert. Warum fragte er sie, wie es ihr ging? Deshalb fuhr sie fort: „Warum fragst Du? Was hast Du auf dem Herzen?“ „Es ist schwer zu erklären“, hob er an, doch sie ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um seine Gedanken in Worte zu fassen, „Es ist alles wunderschön hier. Sauber, gepflegt und untadelig. Wir haben Wasser im Haus und das Clo und das Bad. Und die Kinder können im Garten spielen. Eigentlich ist es schön.“ „Aber nicht das, was Du möchtest“, hakte Marianne vorsichtig nach. „Ich weiß schon, es klingt ein wenig seltsam, wahrscheinlich“, gab er zu, „Aber es kommt mir vor, dass die Zäune nicht nur die Gärten voneinander trennen, sondern auch die Menschen. Alle bleiben für sich, als wollten die Menschen nichts miteinander zu tun haben. Sicher, wir haben mehr Komfort und mehr Platz, aber eigentlich, brauchen wir das denn wirklich, waren wir nicht auch in unserer kleinen, bescheidenen Wohnung glücklich?“ Erwartungsvoll sah er seine Frau an, denn eigentlich hatte er immer wieder davon geträumt, ihr genau das bieten zu können, ihren Lebensabend in einem kleinen, eigenen Häuschen verbringen zu können. Deshalb hatte er – fast automatisch – angenommen, dass es auch ihr Traum war, ohne sie je gefragt zu haben. „Ich war immer glücklich, mit Dir, mit den Kindern und mit unserem Leben. Mir ist nichts abgegangen. Vielleicht ist es auch ein bisschen die Gewohnheit, aber mir fehlen die Nachbarschaft, der Austausch, die Anteilnahme“, gab sie unumwunden zu. „Aber warum hast Du dann sofort eingewilligt, als ich Dich fragte, ob wir in das Häuschen ziehen?“, wollte er nun wissen. „Weil ich dachte, dass Du es Dir wünscht“, erklärte sie lapidar.

Wenige Wochen später zogen sie wieder ein, der Willi und die Marianne Worschak, in ihre alte Wohnung, Zimmer-Kuchl-Kabinett, mit dem Clo am Gang und der Bassena. Mit großer Freude wurden sie begrüßt. „Ihr seids a wieder do“, erklärte der alte Prikopa lapidar, worauf er weiterstapfte, das Tock-tock-tock seines Stockes hallte durchs Haus. Sie waren wieder zu Hause.

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Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand

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