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Life is too short for boring stories

Gedankenverloren sah Lilith in den sternenklaren Himmel, ihren Kopf in Adams Schoß gebettet, der am Stamm einer hohen Birke lehnte, auf dem ein Huhn sein Nachtquartier bezogen hatte. Bis vor Kurzem waren noch alle aus dem Häuserverband zusammengesessen, also alle, die Lust dazu hatten und zumeist hatten alle Lust, hier zu sitzen und zu plaudern. Spontan wurden Gedichte vorgetragen oder Lieder gesungen. Einfach so, weil das Leben Freude machte. Weil es war. Lilith fröstelte ein wenig. Der herannahende Herbst warf seine Schatten voraus, aber dennoch wollte sie noch hierbleiben. Eine kleine Weile noch.

„Es finden immer die richtigen Leute zusammen“, stellte Adam unvermittelt fest.

„Das stimmt“, gab ihm Lilith recht, „Die Menschen, die zueinander passen und sich ergänzen. Denk nur an die Frau Knapp mit ihren wunderbaren Geschichten. Früher, da war sie total unglücklich, saß alleine und isoliert in ihrer kleinen Wohnung und niemand kümmerte sich um sie. Die Kinder, die Enkelkinder irgendwo weit weg.“

„Und dann kam der Umbruch“, ergänzte Lilith, „Könntest Du Dir eigentlich noch vorstellen, dass jeder für sich lebt und kaum Kontakt hat?“

„Nein, dabei ist es erst dreißig Jahre her, seit all diese Veränderungen in Angriff genommen wurden“, antwortete Adam, „Und mir kommt es jetzt schon so vor, als wäre es niemals anders gewesen.“

„Vielleicht weil wir es uns auch nicht mehr vorstellen wollen“, meinte Lilith lachend, „Eine Welt, in der das Leben nichts gilt und die Erde hoffnungslos ausgebeutet wird und kein Tier in Ruhe leben darf.“

„Es geht nicht anders, hatte es damals geheißen“, fuhr Adam fort, sich zu erinnern, „Und dann sind wir auf die Straße gegangen. Erst nur an Freitagen, dann, als es immer noch nichts brachte, sind wir geblieben. Als erst wollten sie uns zwingen. Aber das war nicht so leicht, denn immer mehr Erwachsene, auch Entscheidungsträger, stellten sich auf unsere Seite. Weil sie auch keinen Sinn mehr darin sahen, dass wir zur Schule gehen sollten, wo die Menschheit auf ihren Untergang zuraste. Da galt es doch zuerst den Zug, der immer schneller in Richtung Abgrund gelenkt wurde, anzuhalten.“

„Was ist Schule?“, drang in diesem Moment eine etwas ängstliche Stimme aus dem Dunkel zu ihnen.

„Komm her, meine Süße“, forderte Lilith ihre Tochter Magdalena auf. Bereitwillig setzte sie sich zu ihren Eltern, gefolgt von ihrem Bruder Raphael.

„Und warum rast ein Zug in einen Abgrund?“, fragte sie weiter.

„Schule, das war ein Haus, in das alle Kinder gehen mussten, damals, vor der Wende“, begann Lilith zu erklären, was ihr nicht leichtfiel, weil es ihr immer noch Schauer durch den Körper jagte, „Dann blieben sie so lange drinnen, bis sie wieder gehen durften und haben gelernt, immer 50 Minuten, einmal das eine und dann das andere. Mathematik und Geographie und alles Mögliche, immer nur ein bisschen. Ihre Köpfe wurden vollgestopft mit Wissen, aber keiner sagte ihnen, was sie damit anfangen sollten. Und weil es keinen Sinn gab, als nach der Schule auch jeden Tag in ein anderes Haus zu gehen, das man dann Arbeit nannte, um mit dem Geld Sachen kaufen zu können. Und wer am meisten Sachen hatte, der galt am meisten.“

„Ich finde, dass Sachen machen viel besser ist, als Sachen haben, und Freunde und die Frau Knapp“, warf Magdalena ein.

Versonnen blickte Lilith über die kleine Ansammlung an Häusern entlang, die rund um einen zentralen Platz aufgebaut waren. Bei allen handelte es sich um autarke Häuser, also solche, die selbst Strom erzeugten, Wasser sammelten und auch recycelten, ohne jeden Ressourcenverbrauch. Jedes verfügte über einen eigenen Innengarten und rund um die Häuser waren ebenfalls Gärten angelegt. Die rund 50 Menschen, die jeweils in solch einem Häuserverband lebten, konnten sich sehr gut selbst versorgen. Einzelne Siedlungen mit viel Platz zum Toben, aber auch entspannen in der Natur. Wälder regenerierten sich. Die Jagd war abgeschafft worden. Anfangs musste noch ein Regulierungsmanagement eingesetzt werden, doch das konnte nach und nach zurückgenommen werden. Goldschakal und Lux hatten ihren Beitrag dazu geleistet. Töten war verpönt. Neben den Anbauflächen weideten wilde Rinder und Schafe und Ziegen. Man musste sie nicht mehr nutzen. Kaum jemand aß mehr Fleisch, nutzte Daunen oder Leder. Pelz war sowieso verpönt, zumindest an Menschen. Und wer es tatsächlich nicht schaffte, gänzlich auf Fleisch zu verzichten, holte sich eine Feder von einem Huhn und züchtete es sich selbst im Reagenzglas. Gerne wurde es nicht gesehen, aber es wurde toleriert, wie man eben kleine, menschliche Schwächen toleriert. Seit dieser weltweiten Ernährungsumstellung war nicht nur der Ressourcenverbrauch vehement zurückgegangen, sondern auch die Kosten für die Gesundheitsversorgung. Die Menschen arbeiteten gemeinschaftlich in den Gärten, versorgten sich mit frischem Obst und Gemüse, regional und saisonal, so dass sie gesund blieben. Auch die Transporte konnten auf Minimum beschränkt werden und so etwas wie private Autos kannte man kaum mehr. Es gab auch wenige Gründe wegzufahren, und wenn, dann bediente man sich öffentlicher Verkehrsmittel. Niemand hatte es eilig. Selbst die Textilien wurden regional hergestellt, vorzugsweise aus Hanf und Flachs.

Hier gehts zu Teil 2

Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand

Die Pianobar

Der Weg ist das Ziel ist der Weg

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4 Gedanken zu “In einem Land nach unserer Zeit (1)

  1. oma99 sagt:

    Eine schöne Vision eines anderen Zusammenlebens, mit Verantwortung für sich selbst und für andere, für Umwelt und die Zukunft – gelernt aus den Fehlern der Vergangenheit…
    Selbst und gerade heute mit der Corona-Pandemie ist diese Vision realistischer als alle anderen, wenn Zukunft Sinn machen soll.

    Ich freue mich auf die nächste Folge. Danke!

    1. novels4utoo sagt:

      Danke Dir! Ich denke, dass gerade jetzt Visionen wichtig sind.

      1. oma99 sagt:

        Ganz sicher!
        Ich erlaube mir allerdings auch eine kleine private Vision, die liegt nicht gar so weit in der Zukunft – hoffe ich -, von unserem Wiedersehen *smile*. Diese Vision macht *mein* Leben besonders lebenswert *smile*

      2. novels4utoo sagt:

        Diese “kleine” Vision habe ich auch. Ich freu mich auf Dich!

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