Zunächst jedoch schickte Grete ihre Eltern weg. Nicht nur, damit sie ihren Trick nicht verriet, sondern weil sie zunächst ungestört schauen wollte, was los war. Und es musste etwas Gravierendes sein, denn alles, was sie dem Herrn Prokuristen ins Gesicht geschleudert hatte, entsprach der Wahrheit. Während sie mit dem Werkzeug an dem Schloss hantierte, das zum Glück noch so alt war, dass der Schlüssel einen Bart hatte und so leicht hinaus gedrückt werden konnte, dachte sie daran, wie hoffnungslos loyal ihr Bruder war.
Loyalität ist eine feine Sache und als ihr Vater vor ein paar Jahren mit dem Geschäft, das sie hatten, in Konkurs gegangen waren, da war es nur allzu großzügig, dass Gregors derzeitiger Chef ihnen ein Darlehen gab, damit sie nicht alles verlören. Später erst wurde Grete bewusst, was er damit bezweckt hatte, nämlich Gregor an sein Haus zu binden. Wäre es dabei fair zugegangen, dann wäre auch das kein Problem gewesen, doch dieser Mann nutzte ihren Bruder nach Strich und Faden aus. Dennoch blieb Gregor loyal. Und wenn einmal etwas vorfiel, dann war alles, was Gregor zuvor geleistet hatte, plötzlich nichts wert, so wie es aussah. Endlich war das feine Klimpern zu vernehmen, das Grete verriet, dass der Schlüssel herausgefallen war. Zum Glück hatte sie sich einen zweiten anfertigen lassen. Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen dabei gehabt, sich aber vorgenommen, ihn nur in äußersten Notfällen zu verwenden. Dies schien ein solcher zu sein. Eifrig steckte sie ihn nun ins Schloss und war schon daran ihn zu drehen, doch etwas hielt sie zurück. Es war ihr, als würde sie beobachtet werden. Als sie sich umdrehte, stand tatsächlich ihre Mutter hinter ihr.
„Grete, versprich mir, dass Du Deinen Bruder zur Vernunft bringst. Sein Chef ist so ein guter Mensch, das hat er sich nicht verdient“, sagte sie und ihre Stimme klang flehentlich.
„Ein guter Mensch?“, wiederholte Grete, wobei es ihr nur schwer fiel, die Fassung zu bewahren, „Du musst doch selber sehen, wie er Gregor schikaniert.“
„Aber wenn er nicht gewesen wäre, wir würden jetzt auf der Straße stehen“, meinte die Mutter vorwurfsvoll. Grete sah sie an und beschloss, dass es keinen Sinn hatte, weiter mit ihr zu reden. Schließlich hatten sie auch ihren Beitrag geleistet. Gregor hatte sich sofort bereiterklärt, die ganze Familie zu erhalten. Deshalb schuftete er auch wie ein Irrer. Noch nie war Grete das so bewusst gewesen. Der Vater, der seinen vorzeitigen Ruhestand genießen konnte, die Mutter, die nicht mehr in fremde Häuser gehen musste, und Grete selbst, sie konnte studieren und Aktivistin sein, weil ihr Bruder es ihr ermöglichte. Selbst das hatte sie als selbstverständlich hingenommen. Erst als sie eine Kommilitonin ansprach, warum sie eigentlich so selten an Aktionen teilnahm, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
„Ich muss mir das Studium selbst finanzieren“, entgegnete diese Mitstudentin und -streiterin, deren Name Rebekka war, „Deshalb gehe ich nebenbei arbeiten. Das nimmt viel Zeit und Kraft in Anspruch. Es geht halt nicht allen so gut wie Dir.“
„Es tut mir leid“, antwortete Grete beschämt, „Ich konnte doch nicht wissen.“
„Ist schon gut“, sagte Rebekka sanft, „Du hast ja auch nur gefragt und ich habe geantwortet.“ Sie schien es Grete tatsächlich nicht übel zu nehmen. Dennoch verdankte sie es Rebekka, dass ihr endlich die Augen geöffnet wurden. Wir gehen viel zu leichthin davon aus, dass alle anderen in derselben Lebenssituation sind, wie wir selbst. Es war auch der Moment, in dem Grete sich vornahm, nie wieder voreilig zu urteilen. Wie wenig Ahnung haben wir doch von den Menschen, die uns umgeben, von deren Sorgen, Ängsten und Nöten. Mitleidig sah Grete ihre Mutter an, die selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war und nichts so sehr fürchtete, wie in diese zurückzufallen.
„Ich werde sehen, was los ist und dann wird wieder alles gut“, versuchte nun Grete ihre Mutter zu beruhigen, „Aber bitte lass es mich machen.“
„Ist gut“, erwiderte ihre Mutter und schlurfte mit hängenden Schultern davon.
Als die Mutter im Wohnzimmer verschwunden war, drehte Grete rasch den Schlüssel im Schloss, zog die Türe gerade so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnte, woraufhin sie sie ebenso schnell wieder schloss und versperrte. Dann sah sie sich im Zimmer um. Gregor konnte sie nirgendwo sehen, dafür aber etwas, was ihr fast den Atem verschlug. Sie musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut loszuschreien, während sie sich verängstigt gegen die Türe presste. „Oh mein Gott, das kann doch nicht sein“, schoss es ihr durch den Kopf, „Das ist schrecklich.“
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