Du gingst aufrecht, den Blick erhoben und offen, und nicht demütig gesenkt, wie
es wahrscheinlich von Dir erwartet wurde, aufrecht, als Du den Platz überquertest,
hin zu dem Haus, in dem Er mit Seinen Jüngern weilte.
An der offenen Türe bliebst Du stehen, denn wo
Er war, da gab es nichts
Verschlossenes mehr, nichts mehr, das Seinem Blick entzogen werden konnte. Er saß
mitten unter Seinen Jüngern, mitten unter den Menschen, nicht über
ihnen, sondern mit jedem auf Augenhöhe, und Sein Wort erging an sie, gemessen
und bedacht. Er sprach sie an, direkt und unmissverständlich, nach dem je
eigenen Entwicklungsstand, ließ sie werden und wachsen, hinein in die
Grenzenlosigkeit Seiner Liebe.
Ein leises Lächeln umspielte Deine Lippen, als Du sahst mit
welchem Eifer, ja mit welcher Hingabe Marta um Sein leibliches Wohl bemüht war, Ihn umsorgte und verwöhnte. Ob sie
ein Wort von dem, was Er sagte, mitnahm und behielt?
Marta war der Ansicht, dass sie das gar nicht verstand. Wovon sie was verstand und zu verstehen hatte, war das leibliche Wohl,
sonst nichts. Nein, Du und Marta, ihr konntet euch nicht verstehen, zu weit war ihre von Deiner
Lebenswirklichkeit entfernt, aber Du warst bereit, sie in ihrer Entscheidung zu respektieren, auch wenn es wahrscheinlich noch nicht einmal die ihre war.
Konnte sie das auch? Konnte sie Dich in Deinem
Eigen-Sein, in Deiner Entscheidung Dich nicht, um die Angelegenheiten der Küche
zu bekümmern, weil es auch andere Aufgaben geben konnte, auch für eine Frau, respektieren?
Wagte sie es denn überhaupt über den Rand ihres
kleinen, bescheidenen Wirkungsbereiches hinwegzudenken? Konnte sie es sich denn zugestehen, wagen auch nur zu denken, dass es denkbar
wäre? Aber Du, Du nahmst sie an, auch wenn sie Dich nicht annahm, auch wenn ihre Umarmung kalt und
gezwungen war, so war Deine warm und gewollt.
Du sahst die Jünger, die sich so furchtsam an Ihn hielten, und es doch kaum vermochten aus ihren bisherigen Denkgewohnheiten auszubrechen.
Dabei hätten sie doch nichts weiter tun müssen als Seinen Worten zu folgen, so wie sie Ihm folgten, indem sie ihr bisheriges Leben hinter sich ließen, sprichwörtlich und tatkräftig
alles hinter sich ließen, alles und jeden. Das war für
sie ein gewaltiger Schritt gewesen, ein radikaler Schnitt, und doch offenbar nicht radikal genug, denn immer wieder
fielen sie zurück, redeten, wie sie in diesem früheren Leben zu reden gewohnt waren und handelten, wie sie in diesem früheren Leben zu handeln gewohnt waren. Doch Er, er nahm sie mit, unverdrossen
um nochmals von vorne zu beginnen, wenn es sein musste, jeden Tag. Er müsse mit
ihnen Geduld haben, hatte er Dir erklärt, und Du hattest es verstanden.
Vorsichtig tratst Du ein, das alabasterne Gefäß immer noch fest umschlossen, tratst ein und gingst geradewegs auf Ihn zu. Er wandte sich Dir zu, und Du wusstest, Er freute sich, dass Du da warst.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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