Die Kälte überzieht mich, wie der Raureif die Blüten im Winter, die vergessen haben, ganz zu verblühen, die den Sommer mitnahmen in den Herbst und den ersten Frost. Sie haben zu viel gewollt, zu sehr gehofft und gewünscht. Nein, ich werfe meine Blätter noch nicht ab, dachten sie, denn die Sonne ist noch stark genug, bis die ersten Frostnächte kamen und der Raureif am Morgen. Da war es zu spät. Es wirkt wie ein Anachronismus. Ein Trotz, der dazu führte, dass die Regungen eingefroren wurden, auch das Wollen und Hoffen und Wünschen.
Die Kälte überzieht mich, wie der Raureif die Blüten im Winter, nach all den Erfahrungen, Erlebnissen und Begebenheiten, die es mir opportun erscheinen ließen, diese Abschottung zu errichten. Nicht mehr erreichbar zu sein, auch in meinem Wollen und Hoffen und Wünschen. Es würde doch nur enttäuscht werden. Unverständnis, auf beiden Seiten. Vielleicht hat man sich nicht gut genug erklärt. Aber nein, man hat alles getan, alles, was man konnte, aber ist das nicht immer zu wenig, alles was man kann. Was eine Einzelne kann, kann niemals alles ausschöpfen. Dennoch bleibt nur dieses, was man kann. Mehr ist nicht möglich, wenn eine Wand aus Kälte zwischen uns steht, an der wir eifrig basteln. Erst als der Winter Einzug nahm, aber auch hinein in den Frühling, in den Sommer, als würde die Kälte niemals enden und eine Begegnung nicht mehr möglich.
Die Kälte überzieht mich, wie der Raureif die Blüten im Winter, weil es weniger schmerzhaft ist, eingefroren zu sein, nichts mehr zuzulassen und sich in der Vereinzelung einzurichten. Selbstverwirklichung hatten sie es genannt und es als erstrebenswert bezeichnet. Also hatten wir es erstrebt. Selbständigkeit wurde propagiert und dementsprechend praktiziert. Das Ich gälte es zu entdecken und zu stärken, hatte man erklärt und wir waren folgsam. Individualität auf allen Ebenen, die Unterschiede als Vorzüge in den Vordergrund zu stellen, bis das Gemeinsame so sehr in den Hintergrund gedrängt worden war, dass es nicht mehr erkannt werden konnte. Und wenn jemand sagte, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte, an diesem modernen Weg, dann wurde er müde belächelt, denn das war nun mal das, worauf es ankam, wurde uns gesagt.
Die Kälte überzieht mich, wie der Raureif die Blüten im Winter, auch noch im Sommer, weil es viel einfacher ist, in einer Welt, in der man daran gemessen wird, wie viel Erfolg man im Leben hat. Wobei sich der Erfolg daran zeigt, welche Position man sich erarbeitet hat und welche Dinge man sich leisten kann. Das geht natürlich nur, wenn man die Ellenbogen einsetzt und sich durchboxt, wie es so schön heißt, emotions- und empathielos, denn wer Emotionen zeigt ist schwach. Das darf nicht sein, in einer Welt, in der nur die Stärksten gewinnen. Deshalb zieht man sich hinter die Wand aus Kälte zurück. Schließlich möchte man zu den Gewinnern gehören. Auch die Frage, warum es einen dennoch nicht glücklich macht, wird einfach negiert.
Die Kälte überzieht mich, wie der Raureif die Blüten im Winter. Diese Schicht, die trennt, ist aber auch ein Schutz, unter dem die Blüten bleiben, wie sie sind. Konserviert von der Kälte, ohne sich davon durchdringen zu lassen. Sie ist rein äußerlich und durch sie hindurch, kann man die leuchtenden Farben, die Intensität des Lebens noch erahnen. Sie sind nicht verschwunden, bloß versteckt und wenn es eine Wärme gibt, die sie erreichen kann, die stark genug ist diesen Schutzschild aufzutauen, dann bin ich befreit, wie die Blüte, entfalte mich und wende mich Dir zu, denn Du hast es gewagt, die Vereinzelung zu negieren und auf mich zuzugehen, mich zu berühren und anzurühren. Du hast es gewagt den Raureif schmelzen zu lassen, weil Du es Dir gestattetest, dahinter die Sehnsucht wahrzunehmen, die noch immer gegeben ist, die Sehnsucht nach dem Miteinander und dem Verstehen, das Du mir schenken möchtest, weil Du siehst, dass ich es kann. Und plötzlich wage ich zu Wollen und zu Hoffen und zu Wünschen, weil es wieder Sinn hat, wenn der Raureif der Vereinzelung weggeschmolzen ist. Wenn der Winter der Abschottung endlich vom Frühling des Wiedererwachens abgelöst wird. Wenn das Leben seine Lebendigkeit wieder entfalten darf. Und die Liebe wieder ist.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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