Lange wog sie den Stein in der Hand, besah ihn sich von allen Seiten, ließ ihn wirken und wirkte entgegen. Ich ließ es zu, unterbrach nicht und forderte nicht. Ein gewichtiges, übermächtiges Wort, das da auf diesem Stein stand, „Mutter“. Jeder hat eine Mutter, und jeder ist ihr in irgendeiner Weise verbunden, doch manche tragen sie und andere werden von ihr getragen. Wenige Worte gibt es wohl, die derart vorbelastet sind. Die Bandbreite ist allumfassend, angefangen bei Mutter Erde, die uns alle aufnimmt und nährt, über die große Göttin, die uns behütet und bewacht, bis hin zur eigenen Mutter. Stark und groß müssen Mütter sein, wollen sie diesen Titel verdienen, doch auch nicht zu groß, nicht zu stark, dass sie ihre Kinder erdrücken.
Ihr Blick wanderte in die Ferne, in die Leere, wanderte in eine Unbestimmtheit, weg von diesem Ort, fort aus dieser Zeit. „Warum bist Du nur immer so traurig, Mama? Warum bist Du so verbittert?“, tauchte ihre Stimme plötzlich auf, aus einem tiefen Irgendwo, „Du kümmerst Dich um alles, versorgst mich mit dem Notwendigen, Essen und Kleidung, doch gelacht hast Du noch nie, so lange ich denken kann hast Du noch nie gelacht. Ja, es stimmt schon, ich kann mich nicht beschweren. Bitte, glaub ja nicht, dass ich mich beschweren möchte, bitte, bitte nicht. Ja, ich weiß schon, es geht mir gut, und ich habe alles was ich brauche, bloß zugewendet hast Du Dich mir noch nie, dafür umso öfter abgewendet. Es liegt wohl an mir, dass es so ist. Ganz bestimmt sogar liegt die Schuld bei mir. Ich bin wohl nicht so geraten wie Du Dir das vorgestellt hast. Und deshalb bist Du enttäuscht, enttäuscht von mir, enttäuscht vom Leben und dem, was es Dir aufgebürdet hat. Doch bin ich wirklich diejenige, die für Dein Leid verantwortlich ist? Ich habe alles versucht zu entsprechen ohne mich darüber gänzlich zu verleugnen. Ich bin nicht so wie Du mich gerne hättest, aber sollte es nicht genau umgekehrt sein, sollte es denn nicht so sein, dass Du mich so nehmen solltest wie ich bin, unvoreingenommen und offen, wenn Du mich liebest, wie Du sagst. Allzu lange habe ich gebettelt um Deine Zuneigung, die doch mir gelten sollte, und nicht der, die ich sein sollte, für Dich sein sollte und vor der Welt, um damit den ganzen anderen Pfusch in Deinem Leben auszugleichen. Doch ganz gleich wie sehr ich mich verrenkte, niemals habe ich es geschafft. Deinen strengen Standards zu entsprechen. Aber selbst, wenn ich es geschafft hätte, so hätte es doch nichts geändert an Deinem Leid, Deiner Trauer und Deinem Unglück. Nur ließ ich es mir aufladen. Alle Deine Steine hast Du in meinen Korb gelegt, und heute, heute gebe ich sie Dir zurück. Ich kann nicht für Dein Leben Verantwortung übernehmen. Ich bin nicht verantwortlich für Dein Glück. Das bist Du alleine, Du, nur Du, und sonst niemand. Warum nur hast Du mir das angetan? Wie konntest Du nur?“, brach es aus ihr heraus, und ich sah wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen, während sie all die Steine, die die Aufschrift „Mutter“ trugen aus dem Korb suchte und nach und nach, einen um den anderen, im See versenkte.
Sehen und gesehen werden,
teilen und mitteilen,
hören und angehört werden,
greifen und ergriffen werden,
hüten und behütet werden,
kennen und erkannt werden,
nehmen und wahrgenommen werden,
das ist die Wahrheit der Beziehung!
So hatte sie den ersten Schritt getan in Richtung Entlastung. Da griff sie bereits zum nächsten Stein mit der Aufschrift „Gesellschaft“.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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