Gedankenverloren sehe ich Dir hinterher. Du steigst die Stufen hinunter und gehst zur Straße. Endlich reiße ich mich los. Ich will Dir nicht hinterhersehen, einfach die Türe zu machen und sehen was es zu tun gibt. Zum Glück gibt es immer was zu tun. Eigentlich will ich nicht, dass Du merkst, dass ich Dir hinterhersehe. Es macht es nicht leichter. Natürlich, nüchtern betrachtet ist das nun mal so. Wir sind Freunde. Ab und zu kommst Du auf Besuch. Wir haben eine gute Zeit. Es macht mir Spaß. auch wohl, weil Du mich ernst nimmst. Es hat den Anschein. Vielleicht ist es auch wahr. Es ist schwer das zu unterscheiden. Im Zweifel kann man auf die Echtheit plädieren. Das Gegenteil ist auch nicht zu beweisen.
Ich will Dir nicht hinterhersehen, sage ich. Dabei meine ich, im Grunde genommen, ich will Dir nicht hinterherdenken. Doch das ist viel schwerer als nicht hinterherzusehen. Das zumindest bemerkst Du nicht. Gedanken lassen sich so schlecht dirigieren. Meine zumindest. Gerade eben saßt Du noch da. Ich schüttle die Pölster auf. Die Spuren zu verwischen. Es gelingt. Äußerlich. Ich wende mich anderem zu. Es fällt mir schwer bei der Sache zu bleiben. Natürlich, nüchtern betrachtet war es nichts weiter als der Besuch von einem Freund, wenn auch, zugegebenermaßen, von einem sehr guten Freund. Jetzt ist er vorbei und das Leben fordert mich ein. Man darf nicht hängen bleiben. Nüchtern betrachtet.
Eine Freundschaft ist etwas Wunderbares. Man darf auch nicht undankbar sein. Selbst dann nicht, wenn es schon ganz anders war. Es ist nichts woran man sich gewöhnen darf. Vielleicht habe ich es auch viel zu wenig zu würdigen gewusst, weil ich dachte, einen Moment und auch längere Zeit mitunter, dass es so weitergehen würde. Einfach so. Manchmal bin ich sogar davon ausgegangen. Warum sollte es auch anders werden? Ich fand keine Antwort auf dieses Warum. Das Leben hat sie mir gegeben. Und die war schlicht, weil sich die Dinge ändern. Natürlich, nüchtern betrachtet ist das im Leben so, die Dinge ändern sich, ob wir es wollen oder nicht, ob wir etwas dazu beitragen oder nicht. Und da kann man sich noch so sehr dagegen wehren, einfordern, dass es doch bitte wieder so sein könnte. Es ist sinnlos. Unnötige Kraftverschwendung. Man könnte sie besser nutzen, diese Kraft. So vernünftig können Gedanken sein.
Je mehr Zeit vergeht, desto leichter fällt es mir Dir nicht mehr hinterherzudenken. Atempause. Auch von den Hoffnungen und Träumen und Sehnsüchten, die sich nicht so einfach abschalten lassen wie ein Lichtschalter. Auch Gefühle. Selbst wenn es scheint, als würden sie aus dem Nichts kommen, verschwinden sie nicht einfach wieder dorthin. Ich habe sie nicht gebeten zu kommen. Sie taten es trotzdem. Deshalb machen sie auch keine Anstalten wieder weg zu gehen, wenn ich sie darum bitte. Natürlich, nüchtern betrachtet sollten sich all diese Dinge wie Hoffnungen und Träume und Sehnsüchte und Gefühle entfernen lassen, wenn es dafür keine reellen Grundlagen gibt. So wie man ein mit Bleistift geschriebene Notiz wegradieren kann. Aber es ist nicht mit Bleistift geschrieben, sondern mit etwas, das sich nicht entfernen lässt, so sehr ich auch darum bemüht bin.
Es gibt mittlerweile Stunden, immerhin, da bin ich völlig frei von all diesen Gedanken und von Dir. Da kann ich mich gänzlich auf das konzentrieren, was ich gerade mache. Und dann kommst Du wieder. Als ein Freund. Auf Besuch. Wie schon so oft. Und das ganze Spiel beginnt wieder von vorne. Ich versuche in mich hineinzuhören, ob ich nicht doch ausgeglichener werde, mit der Zeit, ein wenig. Es tut sich nichts. Natürlich, nüchtern betrachtet muss ich doch nur Geduld haben, mit mir selbst. Es wird sich wieder einrenken. Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber so wie diesmal war es noch nie, bilde ich mir zumindest ein. Und immer wieder schummelt sich der Gedanke ein, dass es doch wieder anders sein könnte. Sofort schiebe ich ihn bei Seite. Es kann nicht sein. Ich weiß das. Aber was schere ich mich um mein Wissen? Wieder sehe ich Dir hinterher, wenn Du gehst. Wieder denke ich Dir hinterher, wenn ich die Türe schon längst geschlossen habe. Es ist gut, wie es ist. Und eigentlich ist es nur Deine Umarmung, die ich vermisse, wie sie damals war.
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“So wie man ein mit Bleistift geschriebene Noitz wegradieren kann.” kleiner Fehler oder auch nicht – es hat seine eigene Wahrheit.
So wie der ganze Text. Wenn ich die Vorzeichen umdrehe, könnte er von mir gedacht, geschrieben sein, mit kleinen Varianten.
Nun, jedenfalls wird nichts und niemand die Noitz, die ich kenne, wegradieren.
Danke für den wunderbar durchdachten Hinweis. Das ist so lieb von Dir!