Ich habe Dich gesehen, letzte Nacht, habe ich Dich gesehen. Der Mond stand schon hoch. Der klare, milde Vollmond. Sommervollmond. Manchmal kann er einen erdrücken, im Sommer. In dieser Nacht nicht. Vielleicht war es auch der Mond und etwas anderes. Ich stand auf, ließ mein Nachthemd zu Boden gleiten und warf mir rasch etwas über, etwas Leichtes, Luftiges, zur Nacht Passendes, denn es war heiß, bevor ich ans Fenster trat, und mein Blick sich im Himmel verfing, wie immer. Zuerst sehe ich immer zum Himmel. Er hat etwas Stabilisierendes. Nichts ändert sich. Ja, natürlich, das Sternbild im Jahreskreis, aber es ist eine langsame, verkraftbare Veränderung, so dass es beinahe möglich ist von Stabilität zu sprechen. Auf mich wirkt er jedenfalls so, und diese suche ich. Sie beruhigt mich.
Dann erst ließ ich den Blick weiterwandern, hin zu den Weiden. Die Äste schaukelten sanft im Wind. Eine leichte Brise, denn es war sehr heiß, trotz der späten Stunde, würde gut tun, doch auch das Ringelspiel schien sich zu bewegen. Es war, als hätte sich gerade eben noch jemand damit gedreht und war abgesprungen, als die Bewegung noch nicht zu Ende gekommen war, so dass es sich alleine ausdrehte. Doch wer, wer benutzt mein Ringelspiel? Und der Blick wanderte weiter. War das Gras ein wenig niedergetreten, so als ob gerade wer darüber gegangen war? War die Blume bei Seite getreten? Bildete ich mir das alles nur ein? Klar und verlockend lag der See vor mir und nichts war was die glatte Oberfläche getrübt hätte. Da, ein Stein fiel, und endlich war mein Blick beim See angelangt. Sanft und weich war der Mond und verhüllte mehr als er enthüllte, und doch erkannte ich Dich. Bloß eine Silhouette, eine schwarze, fließende Silhouette. Jeder hätte es sein können, der in etwa die gleiche Statur hatte, und doch wusste ich, dass Du es warst. Unter tausenden hätte ich Dich erkannt.
Wie lange es wohl her war, dass ich Dich das letzte Mal gesehen hatte? Lange, unendlich lange erschien es mir, und doch warst Du unverkennbar, so sehr hattest Du Dich in mich eingebrannt. Es konnte nicht anders sein. Gerade jetzt, wo ich aufgegeben hatte, beinahe aufgegeben hatte zu denken, dass es sein könnte, gerade jetzt warst Du da, und der erste Impuls war loszulaufen, leicht und luftig wie das Kleid, das ich mir übergeworfen hatte, der erste Impuls, doch ich folgte ihm nicht. Ich blieb stehen und sah Dich an, von der Ferne, hoffend, Du hättest mich noch nicht gesehen, schwankend zwischen dem Wunsch mich mit Dir dort auf den Steg zu setzen und mir Dich erzählen zu lassen und der Angst, dass der Moment wieder kommt, da Du gehst, wer weiß wie lange. Schwankend, weil das Glück so groß und der Schmerz noch viel größer sein würde. Schwankend, weil es vielleicht doch nur eine Illusion war, dieses Bild von Dir, doch es blieb, und ich konnte mich nicht irren. Nicht bei Dir. Doch wenn Du da warst und wenn wir die Möglichkeit hätten auf eine gemeinsame Nacht, dann sollte ich es ergreifen, denn nur eine Nacht des Miteinander im friedvollen, stillen Sich-Ergeben wiegt tausende Nächte des Wachens und Wartens. Hätten wir nur einen gemeinsamen Abend, ja nur einen Moment, gegenüber tausenden des Getrennt-seins, selbst dann ist es der eine Moment, der es wert ist, denn er heißt unser. So lief ich, so schnell ich konnte zu Dir, denn wer weiß, vielleicht hatte ich genau diesen einen Moment bereits vertan. Vielleicht hatte ich vertan. Aber was es auch immer war, was auch immer werden würde, ich lief zu Dir, denn ich erkenne Dich.
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Wagst Du es, vom Apfel zu naschen?
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