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Life is too short for boring stories

Lukas Eltern waren inzwischen alt geworden, aber dennoch war es eher ungewöhnlich, dass zwei Menschen aus demselben Grund in einer Nacht starben, so nahe sie sich auch immer gestanden haben mochten. „Als wenn sich meine Eltern je nahegestanden waren“, dachte Lukas voller Verbitterung, „Mein Vater war der Tyrann und meine Mutter eine bessere Putzfrau, die ihm immer zu willen sein musste.“ Aber hatte er sie dann nicht im Stich gelassen? Rasch wischte er den Anflug von schlechtem Gewissen bei Seite, so gut es eben ging und konzentrierte sich auf das, was ihn eigentlich beschäftigte. „Um acht Uhr abends ist Ihr Vater gestorben, Ihre Mutter rund um Mitternacht“, war Lukas mitgeteilt worden, „Am nächsten Morgen gegen acht waren sie von einer Nachbarin tot aufgefunden worden, die ins Haus gegangen war, nachdem sie die Haustüre offen vorgefunden hatte, es aber darüber hinaus kein Lebenszeichen gab.“ Das war alles, was er erfahren hatte. Doch Lukas war es in dem Moment egal gewesen, denn er hatte nur daran denken können, dass er in dieses Haus musste. Doch nun endlich wurde ihm bewusst, wie skurril die Situation war. Bloß vier Stunden hatten zwischen dem einen und dem anderen Sterben gelegen? Und warum war die Haustüre offen gewesen?

Ein wenig zaghaft, verließ er das Haus. Rolf folgte ihm auch dem Fuße. Vielleicht dachte er, sie würden jetzt spazieren gehen. Ein seltsamer Anblick bot sich Lukas. Tatsächlich hatten sich einige Leute auf der Straße eingefunden. Manche hatten Stühle mitgebracht, um sich angenehmer unterhalten zu können. Und das alles nur, weil die Internetverbindung nicht funktionierte? Unentschlossen blieb er vor dem Gartentürl stehen, während Rolf sich neben ihn setzte. Er fühlte sich ein wenig fehl am Platz, weil er niemanden kannte. Nicht ganz niemanden, denn in dem Moment hatte Frau Birnstingel, seine Nachbarin, die auch seine Eltern tot aufgefunden und ihn offenbar ins Herz geschlossen hatte, auch wenn Lukas sich nicht erklären konnte, wie das zugegangen war, auf ihn zu. „Lukas, kommen Sie, ich stelle Sie vor“, meinte sie entschlossen, während sie ihn am Arm nahm, wohl um jeden, möglichen Widerstand bereits im Keim zu ersticken. Lukas dachte allerdings nicht daran, Widerstand zu leisten. Dazu war er viel zu perplex. Nach und nach wurde er auf diese Weise allen Menschen vorgestellt, die sich auf der Straße eingefunden hatten. Wie ein Strom aus sinnlosen Silben schienen die Namen an ihm vorbeizurauschen, bis auf einen, Sybille. Sie wohnte, wie er erfuhr, drei Häuser weiter bei ihren Eltern. Aber es war nicht ihr seidig-schimmerndes Haar, noch die weichen Züge, noch nicht einmal die zarte Figur, die ihn fesselte, sondern diese Art schüchterner Zurückhaltung, die er auch selbst bei neuen Bekanntschaften an den Tag zu legen pflegte, ohne dabei verschlossen zu wirken. Rolf kannte da weniger Bedenken. Er sprang auf sie zu und forderte sie sofort ein. Lächelnd ging Sybille in die Knie, um den schwarzen Hund zu streicheln. „Wenn Rolf meint, sie ist ein netter Mensch, dann ist sie das auch“, dachte Lukas, um sich selbst darüber zu wundern. Es war interessant, dass er so viel Vertrauen in das Urteil eines Hundes setzte. Deshalb wagte Lukas es, sie zu fragen, ob sie nicht einmal gemeinsam mit dem Hund spazieren gehen wollten. Sybille sagte mit großer Freude zu. Es ist so viel einfacher, wenn man einen Vermittler hat. Vielleicht dachte auch sie, dass Lukas kein schlechter Mensch sein konnte, wenn Rolf ihm vertraute. Aber das war nicht einmal das Erstaunlichste, was an diesem Nachmittag passieren sollte.

Nachbar*innen, die sich wohl grüßten und rasch ein paar Worte miteinander wechselten, weil nie Zeit war, sich richtig zu unterhalten, hatten genau dies getan. „Eigentlich sollten wir das öfter machen“, meinte Hr. Windbichler, der am Ende der Straße lebte, „Warum treffen wir uns nicht einmal im Monat auf einen Straßentratsch?“, schlug er vor. Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung und ebensolches Kalenderöffnen, um sich den Termin für das nächste Treffen auszumachen. Jede*r sollte etwas mitbringen. Kuchen und Kaffee, Tische und Stühle wurde vereinbart. „Und an den Anfang der Straße stellen wir ein Einfahrt-verboten-Schild“, sagte Fr. Birnstingel. Auch dieser Vorschlag wurde von allen angenommen. „Es kann ja nicht sein, dass wir darauf warten müssen, dass das Internet ausfällt, damit wir einmal Zeit finden, mit den Nachbarn zu reden“, meinte Hr. Windbichler bevor er sich verabschiedete. „Und wie schön war es, als wir noch ein Straßenfest veranstalteten“, erzählte Fr. Birnstingel, mit ein wenig Wehmut in der Stimme. „Was spricht dagegen, es wieder zu machen?“, fragte Lukas. „Eigentlich nichts“, meinte Fr. Birnstingel, „Bloß muss es jemand organisieren und dazu hatte sich in den letzten Jahren niemand bereiterklärt.“ „Wollen wir?“, fragte Lukas Sybille, die sofort zustimmte. Dann holte er die Leine, um mit Sybille und Rolf spazieren zu gehen. Wie wunderbare Dinge doch passieren können, wenn das Internet nicht funktioniert. Trotzdem ließ ihn die Frage nicht los, was mit seinen Eltern passiert war.

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