Ihr Bauchgefühl sagte ihr an diesem Abend, sei vorsichtig. Deshalb stellte sie den Wagen etwas entfernt ab. Es war ein Glück, dass sie einige Minuten zu früh da war, was ihr sonst nie passierte. Dann ging sie nicht, wie gewohnt, direkt auf das Haus zu, um in den fünften Stock zu gelangen, in dem sich sein Atelier befand, sondern stellte sich in einen Gang gegenüber der Haustüre, der von der Straße aus nicht einsehbar war, von dem aus sie allerdings die Türe genau im Blick hatte. Endlich fuhr sein Wagen vor, er stieg aus und schloss die Türe. Trotzdem blieb sie auf ihrem Beobachtungsposten, von dem aus sie mitansehen konnte, dass er um das Auto herumging, die Beifahrertüre öffnete und seiner Angetrauten aus dem Wagen half. Nun war ihr klar, warum er sie nicht angerufen hatte. Er hatte schlicht keine Möglichkeit dazu gehabt. Still wartete sie ab, bis sie im Hauseingang verschwunden waren. Dann verließ sie ihren Posten und ging zu ihrem Auto.
Die Rosinen aus dem Kuchen zu stibitzen, das war etwas, was sie erst durch eine Freundin gelernt hatte. Viele Jahre lang hatte sie geglaubt, wenn man die Rosinen wollte, dann müsste man den ganzen Kuchen essen. Aber ihre Freundin fragte sie eines Tage, ob sie nicht die Rosinen haben wolle, da sie selbst sie nicht mochte. Da pickte sie sich die Rosinen heraus und ihre Freundin aß den Kuchen ohne Rosinen. Sie war ihr sogar dankbar dafür. Genauso war es mit dieser Art von Beziehung oder Affäre oder Gspusi, wie man es im Wienerischen so despektierlich zu nennen pflegt. Dabei sah sie darin durchaus eine Win-Win-Win-Situation. Die Rosinen, das waren ein paar unbeschwerte Stunden, nach denen jede*r wieder in sein eigenes Leben ging, ein wenig beschwingter, bestärkter und empathischer. Der Kuchen, der ging sie nichts an, das Alltägliche, des Beständige und die Beschwerlichkeit einer Besitzsituation, wie sie die Ehe in den meisten Fällen darstellt. Durchaus ein Missverständnis, aber was konnte man sich in einer Gesellschaft erwarten, die meinte, dass man sich verehelichte, weil man der romantischen Liebe aufgesessen war. Dieser Kuchen, den überließ sie getrost seiner Frau, die ihn schließlich haben wollte, seiner moralinsauren, bigotten, verknöcherten Frau. Natürlich war es Unrecht, jemanden was wegzunehmen. Nur, dass eine gute Liebhaberin niemandem etwas wegnahm, ganz abgesehen davon, dass man nur Besitz wegnehmen konnte. Allein die Feststellung, dass man jemandem einen Menschen wegnehmen könne, sagte schon alles über die Art der Beziehung. Wegnehmen kann man Dinge und Menschen, die man verdinglicht. Aber sie nahm niemanden etwas weg. Den Kuchen durfte sie gerne behalten, bloß die Rosinen wollte sie, an denen seine Frau kein Interesse zu haben schien. Und während sie an die Rosinen dachte, die sie heute nicht picken durfte, zumindest mit ihm nicht, fiel ihr Fred ein, der eigentlich immer Zeit hatte und wo sich wohl auch noch eine Rosine abzweigen ließ. Beschwingt ging sie weiter und während sie Freds Nummer wählte, war das Ehepaar im Atelier angekommen.
„Ich verstehe nur nicht“, hob seine Frau an, die sofort Posten am Fenster bezogen hatte, „Warum Du hier malen musst, wo Du doch ein Atelier zu Hause hast.“ Seltsam, dass da niemand kam. Sie war so überzeugt davon, dass sie ihn überführen würde.
„Das habe ich Dir doch schon hundert Mal erklärt“, entgegnete er genervt, „Wir machen einen Zyklus zum Thema Weltuntergang und haben uns entschlossen allen den Zugang zu den Werken der anderen zu gewähren, zur gegenseitigen Inspiration und wohl auch Abstimmung.“ Ja, sie hatte ihn immer wieder mit der Frage gelöchert, deshalb konnte er mit Fug und Recht gereizt reagieren, aber es half auch, seine Nervosität zu verstecken. Die Minuten vergingen, während er sich mit Pinsel und Farbe an seinem Werk zu schaffen machte und sie mit unverhohlen gespannter Erwartung aus dem Fenster blickte, doch als sich nichts tat, wurde sie wütend. Ihr Plan war offensichtlich nicht aufgegangen.
„Du willst offenbar nichts mit mir zu tun haben“, fuhr sie ihn endlich an, da sie sich betrogen fühlte, ohne den geringsten Beweis, während er immer ruhiger wurde. Er war sich sicher, sie würde heute nicht mehr kommen. Woher sie das nur gewusst hatte? Er würde es erfahren. Für den Moment zumindest war er gerettet und würde das Haus nicht verlieren.
„Wie kommst Du darauf?“, fragte er, nun schon sehr entspannt.
„Du malst nur und lässt mich hier stehen, ohne auch nur ein Wort mit mir zu reden“, erklärte sie. „Ich habe Dir auch gesagt, dass ich hergekommen bin, um zu arbeiten“, erwiderte er mit aller Ruhe, denn in all den Jahrzehnten hatte er zumindest eines gelernt, die Unlogik seiner Frau zu ertragen, denn schließlich wurde er dafür bemuttert, bekam den Kuchen und die Rosinen.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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