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Life is too short for boring stories

Der Karneval ist vorüber. Verschlafen und matt liegen die Gondeln der alten Hafenstadt Seite an Seite in ihren Anlegestellen, dies- und jenseits der großen Kanäle, die, voller Leben bei Tag und verlassen bei Nacht, Venedig wie unzählige Adern durchziehen. Die langen, spitzzulaufenden Büge weisen stolz und aufrecht in den nebelverhangenen Himmel. Ein Ambiente, in dem sich jede*r gerne eine warme Behausung, eine Zuflucht sucht – hinter verschlossenen Fenstern und Türen mit eisernen Riegeln. Nicht nur der Nebel und die Mäuse werden ausgesperrt, auch alle ungemütlichen Gedanken, die die im Warmen Sitzenden ablenken könnten vom sanften Knacken des sich dem Feuer nicht widerstandslos ergebenden Holzes im Kamin. Ein lautes Knallen schreckt die nächtliche Stadt kurz auf – wirklich? Nein, denn hinter den verschlossenen Fenstern bleibt es unhörbar..

Eine magere Gestalt, hingesunken auf der Brücke, hatte, fast unmerklich, zusammengezuckt, um dann wieder in sich zurückzukehren. Eine Türe, eine schwere Türe, vielleicht aus Messing, war krachend ins Schloss gefallen. Erschöpft lehnt er sich daran. Er spürt einen bitteeren, ekligen Geschmack im Mund, im ganzen Körper. Er hatte sie durchschaut, diese bunte Lügenwelt aus Glanz und Glitter, in der alles erlaubt ist, nur nicht sie zu durchschauen. Da gibt es kein Zurück mehr, die Lüge kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Hastigen Schrittes eilt er zur Brücke, nimmt die vermummte Gestalt kurz aus den Augenwinkeln wahr und ist schon wieder an ihr vorüber, aber plötzlich bleibt er stehen, besinnt sich.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er ihre Augen gesehen, die wie zwei Sterne leuchteten. Ganz klar hatten sie abgestochen von dem ansonsten nur schemenhaft wahrnehmbaren Gesicht. Er kehrt um, ganz sacht nähert er sich dieser Gestalt. Er weiß nicht, was er sucht, nur ihre Augen will er noch einmal sehen. Sie scheint ihn nicht zu bemerken. Ihre Augen sind wohl auf ihn gerichtet, doch ihr Blick kommt von weit her und geht über ihn hinweg, weit über ihn hinweg. Es ist ihm, als gäbe es in diesem Blick weder die Stadt, noch den Nebel, schon gar nicht ihn. Er ist nun so nahe gekommen, dass nur wenige Zentimeter Abstand zwischen ihnen ist. Sie zeigt immer noch keine Regung. Er spürt, wie sich ein leichter Ärger in ihm zu regen beginnt. Wie kommt die, diese Armselige dazu, ihn einfach so zu ignorieren, ihn, der es doch gar nicht notwendig hat, sich mit so einer abzugeben? So Einer? Was soll das heißen? Was ist er dem wert? Wem war er wichtig? Frage um Frage stürzt auf ihn ein und mit ihnen der Ekel, der sich in ihm während der letzten Stunden angesammelt hatte, seit er die Lebenslüge durchschaut hatte. Wie von einem Sturzbach durchspült, lösen sich alle Verkrustungen von seiner Seele, hinein in ihre Augen. Alles nimmt sie in sich auf, alles, und trotzdem scheint da noch so unendlich viel Raum in ihr zu sein. Plötzlich ist ihm, als würden diese Augen zu lächeln beginnen. Ganz weich, aber auch müde klingen ihre Worte: „Armes, armes, verlorenes Menschenkind.“

Sein Herz beginnt zu schlagen. Zuerst zaghaft, dann immer eindringlicher. Er vernimmt, wie das Leben durch seinen Körper strömt, richtig lebendiges Leben, zum ersten Mal. Ungeahnte Wärme erfüllt ihn, lässt ihn demütig werden, und liebend.

Als er erwacht, bricht das Licht durch den Nebel, das sanfte Licht der Morgensonne. Die Straßen, die Kanäle sind immer noch menschenleer. Die zarte, vermummte Gestalt ist verschwunden, doch sie hat all seine Seelenlast mit sich genommen. Nur ihre Augen lassen ihn nicht mehr los. Mahnend, wachend begleiten sie ihn. Büßt sie für ihn? Er vermag es nicht zu sagen, nur ihre Augen strahlen ihm nun voran, und wo Dunkel war, scheint ihm fortan ein helles Licht.

Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand

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Der Weg ist das Ziel ist der Weg

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