Lintschi war mit ihren Bemühungen um die Verbesserung ihres Aussehens durchaus zufrieden, wie sie mit einem abschließenden Blick in den Spiegel in ihrem kleinen, aber feinen Hotelzimmer, das sie sofort nach der Ankunft in Paris bezogen hatte, feststellte. Das Kleid schmeichelte ihrer Figur und ließ ihr ausladendes Dekolleté zur Geltung kommen, ohne anzüglich zu wirken. Die Strümpfe mit der Naht unterstrichen ihre langen Beine, vor allem aber die High Heels. Vorsichtig drapierte sie den Hut auf der für diesen Zweck zurecht gerichteten Haare und nahm das Täschchen unter den Arm. Sie war bereit, vor allem für Pierre. Aber auch Francois oder Antoine.
Lintschi schritt nicht weit aus, wie sie es gewohnt war, sondern vollführte kleine Trippelschrittchen, was sie für damenhaft hielt. Ausgangspunkt bildete der Place de la Concorde, von dem aus sie die Avenue des Champs-Élysées entlang flanierte, den Rond-Point des Champs-Élysées ebenso umrundend, wie den L’Arc de Triomphe de l’Étoile, um ihren Weg auf der Avenue de la Grande-Armée fortzusetzen, bis sie den Place de la Porte Maillot erreichte, von dem aus sie denselben Weg in umgekehrter Richtung bewältigte. Natürlich tat sie das nicht in einem Durchlauf. Schließlich wollte sie dem Traumprinzen nicht entkommen, sondern von ihm gefunden werden. Deshalb ließ sie es sich angelegen sein, alle paar Meter in einem Café zu verweilen, das Kleid sorgfältig um ihre Beine drapierend, die sie, schräg nebeneinandergestellt, aufs vorteilhafteste zu präsentieren vermochte. Und wer nun glauben mag, dies wäre eher langweilig und eintönig gewesen, gibt damit zu verstehen, dass er sich noch nie in der Situation befand auf das plötzliche Auftauchen des Mannes gewartet zu haben, der ausersehen war, das Herz eines Mädchens zu erobern. Da sitzt man nicht einfach da, schlürft Kaffee, wahlweise einen Aperitif, so man denn geeicht genug ist und braucht sich ansonsten um nichts zu bekümmern. Ganz und gar nicht. Ständig galt es darauf zu achten, dass das Kleid nicht verrutschte, der Hut richtig saß und die Beine sich nicht zu einem peinlichen, oder zumindest schrecklich undamenhaften, Übereinanderschlagen bequemten, während die Haltung der Hand, die die Tasse oder das Glas aufhob immer wieder überprüft und, wo nötig korrigiert werden musste, und gleichzeitig nach einem möglichen, sich nähernden Kandidaten Ausschau gehalten wurde, um gleichzeitig völlige Interesselosigkeit auszustrahlen. Eine Aufgabe also, die volle Konzentration erforderte.
So schlenderte Lintschi, also in dem Fall Karoline die gesamten 6,8 km Weges ab, ohne den geringsten Erfolg verzeichnen zu können. Ermüdet von den Anstrengungen, trat sie den Weg zum Hotel an, während sie die Ausbeute rekapitulierte, was schnell geschehen war, denn sie belief sich auf gleich Null. Aber sie wäre nicht Karoline gewesen, hätte sie sich so schnell geschlagen gegeben. Vertieft in diese Überlegungen, hatte sie nicht bemerkt, dass sie sich in einer dunklen, schmalen Gasse befand. Endlich rissen sich nährende, dumpfe, schwere Schritte sie unsanft zurück in die Wirklichkeit. Sofort wusste sie was los war. Das konnte nur Pierre oder Francois oder Antoine sein. Sofort waren ihre Sinne geschärft und sie hellwach. Automatisch richtete sie ihre Garderobe, in Windeseile. Dann wartete sie gespannt bis die Schritte nah genug waren. Da hing alles vom richtigen Timing ab. Als es so weit war, stieß sie gekonnt einen spitzen Schrei aus, sah sich sicherheitshalber nochmals um, obwohl sie sicher war, ein Schritt genügte, ein herzhaftes Ausstrecken der Arme und schon würde sie ohnmachtsfällig in ihnen landen. Sie ließ sich sinken. Doch statt mit den Armen ihres Traumprinzen machte sie die Bekanntschaft mit dem harten Pariser Kopfsteinpflaster. Dann schwanden ihr tatsächlich die Sinne.
Das Erste, was sie wahrnahm, als sie endlich wieder zu sich kam, war ein ihr wohlbekannter Bauch, dessen Stattlichkeit nicht zuletzt ihren Kochkünsten anzulasten war. Es war kein Pierre, schon gar kein Francois oder Antoine. Dennoch setzte sie sich auf und umarmte diesen Mann, den sie schon so lange kannte und dennoch völlig verkannt hatte. Sie wusste, dass Worte nicht seine Sache waren, aber was sollte er mehr tun, um seine Sorge um sie zu zeigen, als dass er ihr offensichtlich hinterher gereist war. Romantik hin oder her, Franzosen da und dort, worauf es wirklich ankam im Leben, im echten Leben, das war die Banalität der Verlässlichkeit. Natürlich las sie auch weiterhin ihre Romane, denn ein bisschen träumen würde man wohl noch dürfen. Und sie bestand darauf ab jetzt mit ihrem richtigen Namen angesprochen zu werden. Karoline.
