Die Nacht hindurch hatte es geregnet. Wieder einmal. Es zog sich hinein in den Tag. Wieder einmal. Das Feuer prasselte im Kamin. Die Jungen begannen sich zu bewegen, mehr zu bewegen. Wenn sie zu weit von den anderen entfernt waren, begannen sie klagende Geräusche von sich zu geben. Hope holte sie zurück. Es war, als wollten sie die Welt entdecken und gleichzeitig im schützenden Bereich bleiben. Ein Übergang zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit. Ich sah aus dem Fenster. Es tat gut, dass Leben im Haus war und es in Sicherheit zu wissen. Die Monotonie des Regens machte schläfrig. Auch den Kopf. Tropf-tropf. Immerfort. Aufs Dach. Auf die Scheiben. Nichts bewegte sich. Kein Wind. Nur der Regen. Wenn man mitten drinnen ist kann man sich nicht vorstellen, dass es anders sein kann. Bis es anders ist. So ist es auch mit Veränderungen.
„Du wirkst so geistesabwesend“, wandte sich Maria endlich an mich, womit sie recht hatte. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was sie gesagt hatte.
„Ich hatte einen Traum, heute Nacht, der mich nicht loslässt, oder – besser gesagt – den ich nicht loslassen will. Es war einfach zu schön“, versuchte ich zu erklären.
„Willst Du ihn uns erzählen?“, fragte Maria.
„Unbedingt“, erwiderte ich, weil man schöne Sachen nun mal teilen will. So legte ich los:
„Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Ich denke, es war im Mai, aber ganz sicher weiß ich es nicht. Ich denke immer, es ist Mai, wenn es so schön ist, und doch noch nicht zu heiß. An jenem Tag also fuhr ich mit dem Zug. Ich weiß nicht woher ich kam, sondern nur, wo es hinging, in meine Heimatstadt, also die Stadt, in der ich aufgewachsen war und die ich kannte wie meine Westentasche, wie man so schön sagt. Ich stieg am Bahnhof aus. Fast hätte ich die Station verpasst, weil das nicht der Bahnhof war, den ich in Erinnerung hatte. Hätte ich nicht zufällig auf das Schild gesehen, wäre ich weitergefahren. Was mir als Erstes auffiel war das viele Grün. Wieso gab es plötzlich so viel Platz für Pflanzen?, dachte ich mir, sowohl im Bahnhof als auch auf dem Vorplatz. Die Straßen waren gesäumt von Bäumen und Sträuchern. Ich brauchte einige Zeit bis ich erkannte wie das zuging. Es gab keine Parkplätze mehr, aber auch keine Autos, für die man diese gebraucht hätte. Dennoch war die Stadt bevölkert. Menschen gingen zu Fuß oder fuhren mit dem Rad, doch ohne sich gegenseitig zu belästigen. Heiter wie die Sonne schien der Umgang zu sein. Staunend ging ich die Straße entlang. Da bemerkte ich, dass ich Hunger bekam. Ich ging in ein Lebensmittelgeschäft. Es war keine Kette. Ein einzelner, kleiner Laden. Dass es so etwas noch gibt oder wieder gibt, wunderte ich mich. Automatisch suchte ich die Lebensmittel, die mit dem Vegan-Zeichen versehen waren, doch ich fand keine. Deshalb fragte ich die Verkäuferin, wo ich sie denn fände. Ich fürchtete schon, sie hätten gar keine. Entgeistert sah sie mich an, als käme ich von einem fremden Stern und erklärte mir, dass sie schon lange nichts mehr verkauften, was Tierleid enthielte. Da hatte ich, so meinte ich meinerseits, großes Glück gehabt, dass ich gerade in ein Geschäft gekommen war, das ausschließlich vegane Produkte verkaufte. Der Blick der Verkäuferin wurde noch verdatterter. Es kam mir vor, als wäre sie sich nicht sicher, ob ich es ernst meinte oder einen Scherz mit ihr triebe. Sie beschloss mich für unwissend zu halten und mir geduldig auseinanderzusetzen, dass es nirgends mehr Tierqualprodukte gäbe. Jetzt war es an mir verdattert zu sein. Was während einer einzigen Zugfahrt alles passieren konnte. Unglaublich. Um mich nicht noch mehr als völlig unwissend zu outen, kaufte ich rasch ein paar Sachen ein und verließ das Geschäft. Vielleicht würde ich woanders mehr erfahren. So ging ich durch die Straßen, die natürlich immer noch so angeordnet waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber es war kein einziges Auto zu sehen. So kam ich langsam an die Peripherie. Kühe grasten auf den Weiden. Gemeinsam mit ihren Kälbern. Schafe und Lämmer. Hühner und Küken. Und wenn eines ausbüxte, wurde es einfach zurückgebracht. So kam ich auch zum Schild bei der Einfahrt. Unter dem Namen der Stadt stand groß: erste vegane Stadt Österreichs. Mein Traum war in Erfüllung gegangen, dachte ich mir. Die Tiere, die ich weiden sah, erfuhr ich später, waren die, die aus der ehemaligen Nutztierhaltung noch übrig geblieben waren. Es wurde nicht mehr gezüchtet, sondern wenn es Nachwuchs gab, so auf natürlichem Wege und nach einem genauen Plan. Die Wälder rund um die Stadt wurden nicht mehr bejagt. Nun konnte man das ach so scheue Rot- und Rehwild auch bei Tag äsen sehen. Es war wie eine Insel der Seligen. So sollte die Welt ausschauen, immer und überall. Hier wollte ich bleiben, für immer, doch dann wachte ich auf und war wieder zurück, in einer Welt voller Leid und Gier und Elend, in der Weihnachten keinen Sinn macht.“
„Um Veganville zu erreichen, musst Du daran arbeiten“, meinte Maria sinnend, „Leider geht es noch nicht, dass Du Dich in einen Zug setzt, mal wegfährst, wiederkommst und alles ist anders. Das wäre zu einfach.“
„Warum kann es nicht einfach sein?“, fragte ich automatisch, „Es könnte so einfach einfach sein. Wenn man das Leben ernst nimmt und alles eliminiert, was diesem im Weg steht. Es könnte sein. Aber die Ziele der Menschen sind lebensfeindlich.“
„Dann muss man auch die Ziele ändern“, meinte Maria.
„Ah eh nur so Kleinigkeiten“, sagte ich süffisant, „Warum können nicht alle Menschen sehen, was doch so offensichtlich ist? Warum ist es so schwierig sich auf Neues einzulassen, zumal es mittlerweile so viele Beispiele gibt, dass es auch besser ist?“
„Weil der Mensch nun mal so ist wie er ist“, erwiderte Maria, „Nichts weiter als ein aufrechtgehender nackter Affe, der 80% seiner Entscheidungen aus emotionalen und nur 20% aus rationalen Gründen trifft. Es gibt Dinge, an denen kann man nun mal nicht rütteln, so sehr man es sich auch immer wünschen mag.“
„So sind all die hohen, hehren Worte wie Respekt, Toleranz oder gar Liebe völlig in den Wind gesagt, wenn ich das ernst nehme. Der Mensch ist und bleibt trieb- und instinktgeleitet“, versuchte ich zu verstehen.
„Das ist er, was aber nicht heißt, dass er sich nicht anrühren lassen kann. Worauf es ankommt ist die Berührung“, sagte Maria sinnend, „Wenn Du mich anrührst, die kleine Hope oder ihre Jungen, dann kann ich fast nicht mehr gleichgültig bleiben. Hier kann man ansetzen.“
„Auch für Weihnachten, vielleicht. Die Menschen durch das Leben berühren lassen, sich einzulassen und das Glück zu erleben, das es schenken kann“, folgte ich dem Faden, den Maria mir gegeben hatte, „Anrühren, berühren, ändern, das ist es, was Weihnachten sein soll. Das könnte der Sinn sein.“
„Es könnte der Sinn sein“, meinte Jesus, der bis jetzt neben Hope gesessen hatte und in ihren Anblick vertieft war, „Aber wie lange gibt es schon Weihnachten, ich meine als Fest, und dennoch gibt es immer weniger Menschen, die es zulassen auch den Sinn zu sehen. Vielleicht ist der Sinn an sich gar nicht so schwer zu finden, aber ihn auch in die Wirklichkeit umzusetzen, das ist die eigentliche Herausforderung. Die Menschen wollen sich nichts sagen lassen, und dennoch folgen sie zumeist dem, was ihnen andere vorgeben.“
„Oder die Tradition“, merkte Maria an.
„Oder die Gewohnheit“, fügte Jesus hinzu.
„Und dann ist da noch die Sache mit der Bequemlichkeit“, sagte ich, „Weil der Ablauf bekannt ist. Man muss nicht nachdenken. Einfach alles so halten wie es immer war. Etwas ändern heißt auch, mehr Aufwand, weil man noch nicht richtig weiß wie es geht oder ob es auch so funktioniert, wie man sich das vorstellt. Es gibt so vieles, was man sich selbst im Weg stehen lassen kann.“
„Und dabei gibt es nur eines, was wirklich wichtig ist“, meinte Jesus.
„Die Liebe“, ergänzte Maria, „Es ist schon was Schönes um die Liebe, wenn sie denn wahr ist, wenn sie freisetzt und Leben schenkt. Wer Leben nimmt, liebt nicht. Wer nicht liebt, nimmt Leben. So einfach ist das.“
„Ja, so einfach“, meinte ich, die Worte nachklingen lassend, während sich die kleine Hundefamilie vor dem Kamin zusammenkuschelte, „Genau so einfach kann es sein. Und dann sind da der Sinn und der Weg. Alles was man braucht. Und dennoch …“
„Und dennoch wird es auch dieses Jahr wie immer sein, mit Konsumterror und Massensterben“, vervollständigte Jesus meinen Satz.
„Wozu also noch auf eine Änderung hoffen, darauf, dass der Sinn verstanden wird?“, fragte ich.
„Weil Du nicht anders kannst …,“ erwiderte Maria kurz und bündig.
Und ich machte weiter, weil ich keine Wahl hatte.
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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