Du sitzt neben mir, am Steg und siehst gedankenverloren ins Wasser, in dem Du Dich spiegelst. Das Bild ist nur ein wenig verzerrt durch die sanften Wellenbewegungen.
Alles im Fluss.
Du bist nicht einfach, Du wirst, selbst dann noch, wenn Du stumm und nachdenklich neben mir sitzt und nichts tust als Dein Bild im Wasser zu beobachten oder einfach nur den Blick verloren hältst, ja selbst dann noch, bist Du nicht einfach.
Alles im Fluss.
Ich nehme einen kleinen Stein und werfe ihn an der Stelle ins Wasser, an der Du Dich spiegelst. Das Bild verschwimmt, bis zur Unkenntlichkeit, bis sich die Wasseroberfläche wieder glättet. Es hat Dir nichts anhaben können. Die Steine, die Dich treffen, die Schläge des Schicksals, der Schmerz und die Trauer, die Verlassenheit und die Verlorenheit, es kann Dir nichts anhaben. Es lässt Dich werden.
Alles im Fluss.
Wie fragil es doch ist, dieses Bild von Dir. Ein kleiner Stein genügt, es gänzlich zu entfremden, und doch wird es, immer wieder. Steh auf, wenn Du fällst. Du kannst es. Überlass es nicht den anderen. Übergib Dich nicht den anderen. So lange Du es selber kannst, behalte Dich in der Hand. Sag nicht ja, wenn Du nein sagen willst. Sag nicht, dass es gut ist, wenn es Dir in Wahrheit das Herz und die Kehle einschnürt. Gib nicht nach, wenn Du stark sein willst. So lange Du kannst.
Alles im Fluss.
Lass Dir nicht einreden was Du zu sein oder zu werden hast. Wer kann es wissen außer Dir selbst was Du bist oder was in Dir schlummert? Offenbart es Dir Dein Blick? Zeigt es sich in Deinen Träumen? Spiegelt es sich in meinen Augen? Lass es Dir zu – und übersieh es, wenn die Welt es für eine Unzumutbarkeit hält. Was interessiert Dich auch die Welt, was interessieren Dich die, die Dir nicht Mut zusprechen, sondern versuchen Dich klein zu machen?
Alles im Fluss.
Und das Bild, das in meinem Kopf von Dir ist, ist so fragil, so anfällig, so unhaltbar, da es statisch ist. Verrat am Leben, selbst die Momente des Dich-Erlebens festhalten zu wollen, einzufrieren, reglos zu machen und tot. Verrat an mir, Dich nicht im Leben zu erleben, sondern nur im Sterben, im Vergangenen. Lass es nicht zu, dass ich Dich halte, und sei es nur als das Bild in meinem Kopf, das ich meine von Dir haben zu müssen.
Alles im Fluss.
Wirst Du mich noch mit jener Freude betrachten, wenn ich alt bin, wenn vom Ebenmaß nichts mehr übrig ist? Wirst Du mir noch Deine Berührung schenken, wenn meine Haut dahinwelkt wie ein Blatt im Herbst? Wirst Du mich noch lieben, wenn die Kraft weicht? Wirst Du noch bei mir sein?
Alles im Fluss.
Dein Bild ist das, das ich sehe, weg von der Spiegelung, wenn ich Dich mir zugewandt finde und Dich betrachte, Dich fühle, Dich höre. Das ist es, das ich meine, fragil und verletzlich, immer gewesen, immer neu.
Alles im Fluss.
Das Bild von Dir, ist das Bild, das Du mir schenkst, in jedem Moment neu, und wenn Du weg bist, dann schläft es, bis Du es in die Wirklichkeit erweckst, und das, das es ist, und das Sein ist ein Werden.
Alles im Fluss.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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