Erschöpft lasse ich mich in den nächsten Stuhl fallen. Blinzelnd in die letzten Sonnenstrahlen des vergehenden Tages. Bald wird das Café geschlossen. Wenige verbliebene Gäste. Doch eine halbe Stunde, das wird noch drinnen sein, ein Kaffee, nicht schnell, in Ruhe. Ein wenig lesen, Füße hochlegen. Und während ich schon das Buch, das nächstbeste aus meiner Tasche aufschlage, ist da etwas, vielleicht nicht einmal Etwas, das mich aufblicken lässt, eine Ahnung vielleicht, und die Ahnung sitzt am Nebentisch, die Sonne im Rücken, sitzt da und ich denke, dass sie nett wirkt, diese Ahnung.
Sitzen die Haare? Der Lippenstift? Ach ja, ich trage ja keinen. Mein Glück. Ich wollte nie zu denen gehören, die sich ihren Männern nur geschminkt zeigen. Dazu muss man Frühaufsteherin sein, und dann eines Tages, man ist schon ewig verheiratet, hat drei Kinder geboren, als er an Dein Bett tritt – und das Entsetzen steht in seinen Augen. Ja, Du hast schon immer so ausgesehen, nur er hat es nicht gewusst. Oder ob das heute doch ein Fehler war? Aber woher sollte ich denn in der Früh wissen, dass mich hier, wo noch nie etwas passierte, genau zu dieser Zeit, eine Ahnung beschleicht, die gleich mal so nett aussieht.
Ich hätte auf meine Mutter hören sollen. „Verlass das Haus immer so, dass Du bereit bist für alles, auch für die große Liebe“ – und sollte es jetzt daran scheitern. Verlieben und lieben lernen und Haus bauen und heiraten und Kinder bekommen und Kinder großziehen und Kinder aus dem Haus bekommen und Kinder verheiraten um sie Kinder zu bekommen sehen und das alles nur, weil ich keinen Lippenstift trage, an diesem Tag. War ja nicht vorauszusehen. Daran sollte mein Leben scheitern, also unseres? Die erste Annäherung und die weiße Schleppe an meinem Hochzeitskleid und die versteckte Laube hinter dem Haus mit der Hollywoodschaukel, zuerst zu zweit, dann zu viert. Vielleicht will er ja auch drei Kinder oder vielleicht gar keine. Zwei, nein zwei sollten es schon sein. Aber da wird sich auch meine Einigung finden. Ich wäre ja für eine Alternativschule. Verdammt, kein Lippenstift, aber vielleicht mag er es natürlich. Ich werde mich jetzt einfach ganz natürlich benehmen, einfach hier sitzen und entspannt lesen, als ob ich gar nicht bemerkt hätte. Zwei Kinder, unbedingt.
Welches Buch nehme ich nur? Und nicht Montessori. Ich bin mehr für Freinet-Pädagogik. Das hier? Oder besser das? Nein, das könnte zu intellektuell wirken. Man muss da immer vorsichtig sein. Männer lassen sich nur allzu leicht von intellektuellen Frauen verschrecken. Die Laube weiß gestrichen mit Rosen überwachsen. Ach ja, das ist es. Ein sachtes, leichtes Buch, das mich beschäftigt und doch nicht zu leicht abschreckt. Kein Lippenstift. Und die Beine unrasiert und die Nägel, nein, der Nagellack passt, halbwegs, wenn er nicht allzu genau schaut, dann passt es. Und was habe ich an? Ist nicht überrieben. Sollte auch nicht zu teuer aussehen. Das wirkt entweder danach, als würde ich viel Geld verbrauchen oder viel Geld haben. Kann auch abschrecken. Zu verwöhnt die Frau. Einkaufswütig die Frau. Das passt immerhin. Es ist so schwer. Es gibt so vieles was man bedenken muss. Vielleicht sollte ich die Kinder erst später ansprechen. Ob er ein Kavalier ist? Oder zumindest gut erzogen? Vielleicht raucht er gar nicht. Ach doch, na dann. Und dann, die erste Gewöhnung und das normale Leben und das Miteinander – Frustration und Langeweile bis zum Zerreißen, und dann die Versöhnung und das Wiederfinden. Als wenn man sich nach Jahrzehnten aufs Neue entdeckt. Es hat schon was Schönes. Bis zur Beerdigung. Die gebrochene Witwe. Ich bin nur froh, dass mir Schwarz so gut steht, aber ich muss im Form bleiben. Es ist immer damit zu rechnen, dass es im Sommer passiert. Und dann wird auch kein Lippenstift mehr nötig sein, nur nachlässig darf man nicht werden. Die Laube, das wäre schon schön – aber vielleicht gehe ich einfach mal rüber und sage Hallo, einfach nur als Ich selbst.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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