Christian fühlte sich ein wenig hilflos. Es war ein spontaner Entschluss gewesen, dass er sie auffing und mit nach Hause nahm. Vielleicht noch nicht einmal ein Entschluss, sondern ein instinktives Vorgehen. Jetzt erst, als sie auf seinem Bett lag, wurde ihm bewusst, was er da getan hatte. Was, wenn sie aufwachte und meinte, er hätte sie entführt? Was, wenn sie dachte, er hätte noch anderes mit ihr angestellt, gegen ihren Willen? Man konnte da heute nicht vorsichtig genug sein. Andererseits, sie wirkte so lebenslustig, so unbeschwert, als würde es nichts Böses in der Welt geben. Und tatsächlich meinte man in ihrer Gegenwart wieder daran glauben zu können, dass es das Gute gab, trotz allem. Und nicht nur das, man konnte auch gar nicht anders, als sich entsprechend zu verhalten. Das war es wohl auch, das ihn veranlasst hatte so kopflos zu handeln. Wie ein Engel, dem man die Flügel gestutzt hatte, erschien er ihr. Beruhigung und Zuversicht schenkte sie ihm, selbst jetzt noch, wo sie so ruhig auf seinem Bett lag, und das einzige Zeichen, an dem zu erkennen war, dass sie noch lebte, im Heben und Senken ihrer Brust bestand. Für einen Rückzieher war es zu spät. Martinique hatte sich ihm anvertraut, aber auch er ihr.
Vorsichtig setzte er sich aufs Bett, neben ihren noch immer reglosen Körper. Unwillkürlich legte er die Hand auf ihren Hals, so dass er ihren Puls spüren konnte. Ruhige, gleichmäßige Schläge spürte er. Es konnte genauso gut sein, dass sie schlief. Ob sie es merkte, dennoch merkte, wenn er sie streichelte, ihre Wange entlang, den Hals, über ihre Schultern, die schmalen Hände? Durch die Ohnmacht oder den Schlaf hindurch, sie zu erreichen in seiner Berührung? Völlig hilflos war sie in diesem Zustand. Bar jeder Macht. Ausgeliefert. Eigentlich konnte er mit ihr tun was er wollte, was auch immer ihm gefiel. Aber gerade das war es, was ihn ihm den Wunsch weckte sie zu beschützen, sie zu beherbergen und ihr Gutes zu tun. Als würde er nicht anders können. Wie ein Ritter seiner Prinzessin gegenüber. So wollte er sich betragen. Es war wie ein Versprechen, das er sich von niemand anderen abringen hätte lassen, außer von sich selbst. Gedankenverloren nahm er die Hand von ihrer weg und legte sie auf ihre Fessel. Er kannte das Gefühl von Nylons auf nackter Haut. Prickelnd durchzog es ihn. Es war wie ein Versprechen, ein Verhüllen und Entblößen gleichzeitig. Ahnen lassend und nicht völlig preisgebend. Langsam fuhr er mit der Hand über ihre Schenkel, bis er den Abschluss der Strümpfe erreichte. Wunderschön waren diese Beine, wohlproportioniert und stark. Das Kleid rutschte höher, so dass er die nackte Haut sah. Oder war er es gewesen, der es verschoben hatte.
Seine Hand und seine Gedanken verloren sich in der Berührung. Zart fühlte sie sich an, zart und warm. Da ließ sie ein Aufstöhnen vernehmen. Irritiert sah er ihr ins Gesicht, in dem sich die Augen abermals schlossen. Offenbar hatte sie sein Streicheln aus der Ohnmacht geführt, bloß um sie in eine weitere Ohnmacht zu versetzen. Seine Wirkung auf sie war viell intensiver, als er sich das je gedacht, je zugetraut hätte. Natürlich hatte er schon Frauen erlebt, die in Ohnmacht gefallen waren, auch seinetwegen, aber von einer direkt in eine andere, das hatte er noch nicht erlebt.
Sanft schob er seine Hand in ihren Nacken und hob ihren Kopf ein wenig an. Alle Zweifel waren wie weggefegt, als er sich über sie beugte und sie küsste. Warme, weiche Lippen auf den seinen spürte, da das Leben und die Beweglichkeit zurückkehrten und sie den Arm auf seinen Rücken legte, seinen Kuss zu erwidern, ihn näher an sich zog, während ihre Zunge seine Lippen teilte und sich mit der seinen vereinte. Kein Gedanke mehr, kein Zögern, nur noch dem Wunsch folgend sie zu küssen, an sich zu drücken und zu spüren.
Unverletzlich ist nur der Nicht-Liebende, doch er bezahlt es mit Lebendigkeit. Das Wagnis ist das Leben selbst, die Herausforderung die Überwindung. Deshalb schloss er die Augen. Was auch immer passieren mochte, es würde gut sein. Einlassen, fallenlassen, seinlassen, zulassen – da sie ihn umschlang, nicht nur mit ihren Armen, sondern mit der ganzen Kraft ihrer Gegenwart. Warum ist es so abwegig zu lieben? Warum ist es so abwegig zu leben? In aller Schlichtheit, es einfach zu tun, ohne Vorbehalte, ohne Rückhalt. Weil es eben so ist und es für das Sein keinen Stellvertreter gibt. So dass es eigentlich genügte. Eigentlich.
Einsteigen mit Ohn-macht (1): Weihnachts-Kater
Fortfahren mit Ohn-macht (3): Ausgeliefert
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