In Kooperation mit VASA Journal on Images and Culture, Bilder @Roberto Muffoletto
Hinführung
Das Sehen war zuerst. Sowohl in der Phylo- als auch in der Ontogenese. Der Mensch nimmt seine Welt sehend wahr, von Anfang an, und teilt sich ebenso nonverbal mit. Der verbale Ausdruck kommt vergleichsweise spät. Wenn ein Baby auf die Welt kommt sieht es. Wohl im eingeschränkten Raum, doch gerade so weit, dass es das Gesicht dessen erkennen kann, der es auf- und annimmt. Sehen ist Hinwendung. Dann erst weitet sich der Blick in die Welt, in die es geworfen ist. Diese Einschränkung im Beginn ist ein Schutz vor der Urwucht des Lebendigen, das die Welt umfasst. Ausgangspunkt des In-der-Welt-seins ist die Aufnahme in die Gemeinschaft. Von dort aus geschieht das Hinausgehen und das sich im Blick vertraut machen. Dieses Staunen über die Überfülle kann man später noch nachvollziehen, wenn man einen hohen Berg erklimmt und sich die Welt mit einem Mal vor einem ausbreitet. Staunen, das ohne Worte auskommt, weil es keine gibt.
Das Überwältigtsein vom Moment des Erkennens, in dem einem bewusst wird das dies, was ich erkenne und das mich bereits zum Staunen bringt, nur ein kleiner Ausschnitt des Erkennbaren ist. Die Unmittelbarkeit des Erlebens, des Eindrucks ist ein rein personales Geschehen, das in jener Individualität weder teil- noch mitteilbar ist. Im Festhalten des Moments verliert er seine Unmittelbarkeit. Ein Vermittler schiebt sich zwischen den Moment des Erlebens und den Ausdruck, sei es in Form einer bildlichen Darstellung, in welcher Form auch immer oder in einer Erzählung. In jedem Fall wird der Fokus auf etwas gerichtet und das nicht fokussierte ausgespart. Das gebannte Bild ist ein Ausschnitt. Einerseits wird damit die Darstellung bewusst verarmt, aber gerade durch diese Verarmung gelingt eine Konzentration auf jenen einen Aspekt, auf den der Vermittler abzielt. Er will uns nicht in eine Gesamtheit zwingen, sondern in die eine Wesentlichkeit des Gesehenen, das er mitteilen möchte. Wobei nicht gesagt ist, dass der Rezipient eben jenen Aspekt übernimmt. Das Bild an sich ist fixierte, statische. Es ist in seiner Art eine conditio sine qua non, der sich der Rezipient weder fügen noch widersetzen kann, weil er den besonderen Aspekt nicht unmittelbar erfährt. Er verbleibt in seiner Freiheit der Wahrnehmung und setzt seinen Fokus sogar kontradiktorisch. Diese Freiheit und Offenheit der Rezeption ermöglicht erst die Mitteilung und sprachliche Thematisierung des Abgebildeten. So end-gültig es in seiner Ausarbeitung anmutet, so unbestimmt wird es in der Wahrnehmung. In der sprachlichen Auseinandersetzung, im sich Annähern wird es neu belebt, neu gesehen und verändert. Der sprachliche Ausdruck kann es relativieren, erweitern, einengen oder einfach sein lassen.
Das Bild ist da. Es ist etwas Gegebenes. Die Freiheit des Rezipienten beginnt an dem Punkt, an dem er entscheidet ob er sich auf das Gegebene einlässt oder nicht. Die Entscheidung für dieses Einlassen ist in den seltensten Fällen eine bewusste, sondern ein Aspekt der anspricht und in die Konzentration zwingt. Das muss nicht unbedingt das Motiv sein. Es kann eine Farbschattierung, eine bestimmte Weise der Helligkeit oder der Abwesenheit von Helligkeit, eine vage Erinnerung, ein vermeintliches Wiedererkennen, eine unbestimmte Intuition und vieles mehr sein, aber was es auch ist, es nimmt mich hinein in das Sehen, in das Sehen, das mir ein anderer vorgibt, dem zu folgen ich mich anschließen oder entgegensetzen kann.
Das Sehen war zuerst, und dennoch kann das Gesehene, das artifiziell, vermittelte Sehen durch Sprache bereichert und erweitert werden. Das von mir individuell Gesehene wird in Sprache umgesetzt und damit in ein anderes Medium der Mitteilbarkeit. In der sprachlichen Vermittlung kann ich im Bild bleiben, oder mich auf das Angebot des konzentrierten, festgehaltenen Moments einlassen, indem ich mir eine Geschichte zusprechen lasse, zu der es mich herausfordert. Dabei kann die Gegebenheit des Ausschnitts der Welt, der sich im Bild wiederfindet, auf verschiedenste Weise in der Geschichte seinen Widerhall findet:
- Das Bild als Ausgangspunkt: Der Beginn der Geschichte ist das Bild. Von dort ausgehend wird das Geschehen in Gang gebracht und wir bewegen uns in die Welt hinaus, lassen uns führen in ein Werdendes, das im Abgebildeten seinen Ausgang nimmt.
- Das Im-Bild-verbleiben: Eine Geschichte, die sich im Bild entwickelt und darin verbleibt. Das kafkaeske unserer Gesellschaft demonstrierend und die Illusion von Raum und Zeit demontierend.
- Geschichte als Kontrapunkt zum Bild: Die Geschichte bildet hierbei eine bewusste Opposition zum Bild, erweitert sie um ihr Gegenteil und fordert zu einem Diskurs heraus.
- Das Bild in der Utopie: Die Utopie, als Nicht-Ort oder Aller-Ort ist mehr als ein Traum, mehr als eine Fiktion. Sie ist eine Notwendigkeit der Seelenreinigung und eine Möglichkeit. In der Utopie finden sich archaische Muster wieder, die durch das Bild ausgelöst werden.
- Das Bild als Endpunkt: Angekommen, an ein Ziel, vielleicht, zumindest eine Zwischenetappe. Das Vorher, das einen zu diesem Jetzt brachte und bleiben lässt. Ein Schlusspunkt, der ein Vorangehen begrenzt und übersichtlich werden lässt.
Doch um der grauen Theorie zu entgehen, soll dies im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele verdeutlicht werden. Der Erkenntnis, das Sehen war zuerst, folgend, steht das Bild als Ausgangspunkt. Dem folgt eine simple wörtliche Umsetzung, also eine Beschreibung des Gesehenen. Hierauf folgen die Wege des Zuganges zu dem Bild in Form einer Geschichte. Die vielfältigen Wege und Zugänge sollen auf jeweils einen begrenzt werden, das der Übersichtlichkeit durchaus zuträglich ist, folgend den fünf oben genannten Möglichkeiten. Dem folgt die jeweilige Geschichte selbst. Zuletzt folgt eine Reflexion über den Gedankenprozess, der dem Schreiben voranging, es leitete, provozierte inspirierte und lenkte.
Beschreibung
Das erste was ins Auge fällt, prominent und einnehmend situiert, ist die Stiege. Eine Stiege aus Metall, mit ebensolchem Geländer. Funktionell mehr nicht, ein Gebrauchsgegenstand, bei dem so wenig Material wie möglich eingesetzt wurde. Kostensparend und haltbar. Breit und ausladend. Dafür angelegt, dass viele Menschen gleichzeitig auf und ab gehen können. Kalt und pragmatisch, wie alles Funktionelle. Silberglänzend, nur dort, wo ein Absatz kommt, die gelbe Warnfarbe. Der Schnee legt sich trotzdem darauf. Auch wenn der Schnee selbst kalt ist, dämpft er die Kälte der Funktionalität und des Menschenwerkes. Ein wenig zumindest. Rutschig ist das Metall. Wie leicht kann man ausrutschen und sich verletzen. Jetzt ist niemand auf der Stiege. Es ist außerhalb der Zeiten, in denen viele Menschen verkehren. Niemand ist da. Wahrscheinlich mitten in der Nacht. Dennoch ist das Licht gleißend hell. Zerstört die Nacht. Macht sie funktionslos um das Funktionieren zu ermöglichen. Ganz gleich wie spät es ist, es muss weitergehen. Die Nacht zum Tag gemacht. Die Treppe führt zu einem Gang, der rundherum aus Glas und Metall besteht. Die Funktionalität wird beibehalten. Er bietet Schutz, aber keine Wärme. Es ist kein Ort, an dem man bleiben will. Rasch kommen. Rasch gehen. Taktung des Zuges. Des Fahrplanes. Rechts neben der Stiege das Bahnhofsgebäude. Ein älteres Gebäude, das nicht ganz den Vorzügen der bloßen, modernen Funktionalität entspricht. Die Fensterläden sind geschlossen. Links der Zug, oder der Abschluss eines Zuges. Das Rot leuchtet durch den Schnee und die Kälte und die Dunkelheit und das gleißende Licht. Bereit zur Abfahrt. Es muss weitergeht. Und links oben ein gelbes Schild. Ein Teil davon, und nebenan, weitere Bahngeleise. Ohne Leben. Geisterhaft.
Geschichte: Flucht ins Ungewisse
Langsam nähert sich der Zug seinem Endziel. Ein wenig hat er die Augen geschlossen, war auch ein wenig weggedämmert, wahrscheinlich. Bloß nicht zu viel. Er hat Angst vor seinen Träumen. Deshalb ist es besser nur ein wenig wegzudämmern. Es gar nicht erst zu einem Traum kommen zu lassen. Er beginnt immer gleich, dieser Traum. Schön und jung wie sie war, legte sie die Hand um seinen Nacken, als er im Bett lag, während er sich nicht regen konnte. Sein Körper hatte ihm einfach den Dienst versagt. Wie ein Stück Holz hatte es sich angefühlt. Keine Muskeln. Keine Gelenke. Nur mehr Starre. Ihre Hand unter seinen Nacken geschoben, war ihr Gesicht über seinem. Ganz nahe war es ihm gewesen. Er konnte ihr Lächeln erkennen, ihre Zärtlichkeit und die eine Haarlocke, die sich aus dem Knoten gelöst hatte. Er hätte sie ihr so gerne aus dem Gesicht gestrichen, wie er es schon so oft getan hatte.
Nein, nicht wieder dieser Traum. Der Zug war angekommen. Wo? Ganz egal. Er sah auf das Schild. Hals über Kopf war er geflohen, aus einem Leben, das keines mehr war, aus einem Sterben, das noch nicht stattfinden konnte, einfach irgendwohin. Einfach so. Als wenn je etwas im Leben einfach wäre. Doch nun musste er den Zug verlassen. Nur mehr er. Mitten in der Nacht. Zwischen Mitternacht und vier Uhr früh. Es war eine gute Zeit zu reisen, wenn man seine Einsamkeit zelebrieren wollte. Oder wenn man noch nicht die Kraft hatte aus ihr herauszutreten. Schwerfällig erhob er sich aus seinem Sitz. Er war tatsächlich der Einzige. Seine Knochen schmerzten. Jeder einzelne, so kam ihm vor. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Warum sollte es noch ein Vorwärts geben? Allein die Tatsache, dass er sich nach all den Jahrzehnten doch noch aufgerafft hatte und alles hinter sich lassen wollte, zeigte doch, dass es irgendwo in ihm, ganz versteckt, in einem geheimen Winkel, eine Hoffnung auf ein Vorwärts gab. Diese Hoffnung hatte sich Bahn gebrochen, als er, während sie tief und fest geschlafen hatte, den Koffer packte und ging. Nur das Notwendigste. Er war mit sich selbst schon belastet genug. Sein Körper wollte nicht mehr so wie sein Wille. Das musste er berücksichtigen. Aber er brauchte auch nicht mehr viel.
Wie sehr er sie geliebt hatte, und wahrscheinlich immer noch liebte, über all die Jahrzehnte hinweg, und dennoch war es seit langem nicht mehr das Gleiche, seit jenem Tag im November. Er war mit ihrem gemeinsamen Sohn Schlittschuh laufen gewesen.
„Bist Du Dir sicher, dass das Eis hält?“, fragte sie unsicher, während sie ihrem Sohn in den Schianzug half. Er sah ihn noch vor sich, so voller Freude und Hingabe an das Leben. Es war kein leichtes Unterfangen ihn in den Schianzug zu zwängen, weil er keinen Moment stillhalten konnte. Und da war ihre Sorge und ihre Angst, die sie nicht zeigen wollte, nicht ihrem Sohn.
„Ja klar, bin ich mir sicher!“, hörte er sich lachend antworten. War er sich denn wirklich sicher gewesen? Natürlich, sonst hätte er es nicht gemacht. Ihnen konnte nichts passieren, davon war er überzeugt, bis er alleine nach Hause kam. Und da waren dann nur noch er und die Frau, die er liebte. Aber ihr Sohn war nicht mehr da. Dabei war er sich so sicher gewesen.
Er ging über den Bahnsteig. Das Licht blendete. Die Nacht hat ihre Gespenster. Schatten und Dämonen, doch keiner dieser Dämonen konnte so nachhaltig sein, wie die, die seit jenem Tag in seinem Herzen wohnten. Und das Bild des kleinen Gesichtchens unter dem Eis. Dann kam das andere Gesicht, das sich über ihn beugte und ihn anlächelte. Das Lächeln verschwand und die Zärtlichkeit, während die Hand sich aus dem Nacken löste und nun seinen Hals umfing, zudrückte. Doch nein, so einfach wollte sie es ihm nicht machen. Er sollte weiterleben mit dieser Schuld und mit ihr. Das war die größte Strafe. Für sie, weil sie ihm vertraut, ihm das wichtigste in ihrem Leben anvertraut hatte, und für ihn, da er den Vorwurf jeden einzelnen Tag, jeden einzelnen Moment zu spüren bekam.
Konnte es denn tatsächlich ein Vorwärts geben? Er war hier, an einem fremden Ort, ohne zu wissen wo er hinwollte. Langsam stieg er die Treppe hinauf, die eiserne, schmucklose Treppe, die ihn von diesem Ort fortbrachte, wohin auch immer. Das Geländer, an dem er sich festhielt fühlte sich kalt an. Er hatte nichts geplant. Für ihn gab es keine Pläne mehr. Seit jenem Tag. Er dachte noch, ob zumindest ein Café offen hätte, als er unvermittelt ausrutschte. Stufe um Stufe fiel er rücklings abwärts, um leise und unbeweglich im Schnee liegenzubleiben. Unbeweglich wie in seinem Traum. Nur, dass er sich nun wirklich keine Sorgen mehr zu machen brauchte.
Inspirative Reflexion
Ein einsamer Bahnhof, mitten in der Nacht, irgendwann zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens. Denn das sind erfahrungsgemäß die Zeiten, zu denen die meisten Bahnhöfe menschenleer sind, selbst die größten. Es hat etwas Beängstigendes. Dazu kommt noch die Dezimierung auf die reine Funktionalität. Es ist ein Ort, an dem man abfährt oder ankommt, zu dem man einen Abfahrenden begleitet oder jemand Ankommenden abholt. Aber ganz egal wie, man möchte so schnell wie möglich wieder von dort weg. Durchgangsstation. Da ist ein Zug. Der ist gerade angekommen. Ein einziger Passagier steigt aus. Was macht er dort, mitten in der Nacht, in der Zeit zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens? Woher kommt er? Wohn lenkt er seine Schritte? Wer ist es? Sinnbild eines verlorenen, an einem Platz, der niemanden aufnimmt, sondern durch seine Kälte abstößt. Menschenwerk. Bloße Funktionalität. Er ist fortgegangen. Warum? Es könnte eine Flucht sein. Es ist eine Flucht. Eine Flucht in eine Ungewissheit, in die Kälte, die Verlassenheit, einen Ort, der einen wieder vertreibt. Doch was veranlasst jemanden in die Nacht der Verlassenheit und die Kälte und die Ungewissheit an einen Ort zu fliehen, an dem man nicht bleiben kann? Es kann nur etwas sein, was noch schlimmer ist als die äußere Kälte, etwas, das einen all das ertragen lässt, eine noch tiefere Heimatlosigkeit. Der, der sich dahin verwirrt aus einer Heimatlosigkeit in eine andere, wäre leicht ihn sich als jungen Mann vorzustellen. Es ist leicht sein Leben zu ändern, wenn man jung ist. Umso älter man wird, desto schwerer fällt es den meisten Menschen. Es bedarf mehr jemanden aus der Gewohnheit zu vertreiben, aus einem Umfeld, in dem man sich nicht wohlfühlt. Lieber bleiben, als zu gehen. Bis es wirklich unerträglich ist. Was kann das sein? Eine Bedrohung? Eine Beziehung, aus der man flieht, bevor man erstickt? Eine Einsamkeit, aus der man nicht mehr auszubrechen vermag? Kleine Hinweise zu Anfang. Ein Einfangen in die Situation, die noch Wärme ausstrahlt, aber auch schon irritierend wirkt.
Eine Zuwendung, die eine Antwort erwarten lässt, die jedoch nicht erfolgt, weil er in Starre verfallen ist. Doch er muss sich aufgerappelt, muss es doch wieder in die Beweglichkeit geschafft haben. Es war der Traum, der ihn wegtrieb, in die Einsamkeit, in die Aussichtslosigkeit, in die man nur geht, wenn das bisherige noch aussichtsloser ist. Und wenn sich offenbart wovor er flieht, kann es nur mehr eine Möglichkeit des Vergessens geben.
