2. Die Umarmung
Krachend wurde die Türe aufgestoßen. Krachend fiel sie ins Schloss. Ruben und Lilith saßen bei einer Tasse Tee. Er war gegangen und wiedergekommen. Er blieb und er ging. Vielleicht ein wenig länger an diesem Tag. Es war gut gehen zu können, denn sonst kann man nicht wiederkommen. Eine Vertrautheit zu genießen, die Kraft gibt, das Neue, das Unbekannte zu entdecken. Erschrocken sahen beide hoch. Das Mädchen, das da so breitbeinig im Raum stand, sah so wild aus wie sie die Türe behandelt hatte. Die weiten Camouflage Hosen baumelten ihr um die Beine. Die Kapuze des Sweaters hatte sie sich über den Kopf gezogen, so dass nur vereinzelt ein paar kurze Strähnen schwarzer Haare keck hervorlugten. Ihr Blick war unstet und die Lippen hatte sie fest zusammengepresst, als würden sich dahinter Worte stauen, denen sie auf gar keinen Fall erlauben konnte, herauszukommen. So wie sie wohl auch ihren Augen verbot die Tränen freizugeben, die sich dahinter seit langer Zeit gesammelt hatten.
„Hallo! Schön, dass Du da bist“, wandte sich Lilith an das Mädchen, „Setz Dich doch zu uns und trink eine Tasse Tee mit uns.“
„Gibt es nichts anderes?“, fragte sie schnoddrig, ohne den Gruß zu erwidern.
„Wie wäre es mit heißer Schokolade?“, schlug Lilith unbeirrt fort. Nur Ruben wirkte ein wenig irritiert. Dieses Mädchen schneite hier herein, grußlos, und dann stellte sie auch noch Forderungen. Absolut kein Benehmen. Das war es was er dachte, so eindeutig, als wäre es auf seine Stirn geschrieben.
„Ich hatte zwar an etwas Härteres gedacht, aber wenn es nichts anderes gibt, dann halt das“, erklärte sie, merklich darum bemüht den schnoddrigen Tonfall beizubehalten. Es fiel ihr jedoch sichtlich schwerer.
„Möchtest Du ihn mit Schlagobers?“, fragte Lilith, als sie die dampfende Tasse vor dem Mädchen auf den Tisch stellte.
„Oh ja, bitte“, erklärte sie, „So haben wir ihn früher auch immer getrunken.“ Und während Lilith einen riesen Gupf Schlagobers auf ihren Kakao häufte, war das Wilde nicht nur aus den Augen verschwunden. Stattdessen kam ein Mädchen hervor, das sanft sein konnte und zugewandt und liebevoll. Ein Mädchen, das so voller Sehnsucht und Berührbarkeit war. Aber die Sehnsucht, die unerfüllt bleibt, zieht sich in sich selbst zurück. Weil es weniger weh tut sie zu leugnen, als sie immer wieder aufs Neue unerfüllt zu sehen. Die Berührbarkeit versteckt sich hinter Unantastbarkeit, wenn die Berührungen ausbleiben.
„Und damit ihr es gleich wisst, ich brauche nichts und niemanden. ich komme sehr gut alleine zurecht. Also bin ich hier eigentlich fehl am Platz“, erklärte sie. Lilith bemerkte, dass auch Ruben sich ihr zugewandt hatte, dass er bereit war über ihr Benehmen hinwegzusehen, denn er erkannte in ihr ein Mädchen ohne Halt. Ein Getriebener erkennt den anderen.
„Natürlich nicht“, sagte er schließlich, „Aber das braucht uns ja nicht davon abzuhalten hier zwanglos zu sitzen und miteinander zu plaudern.“
„Ok, wenn Du das willst“, sagte sie, weit weniger mürrisch, als sie es eigentlich sagen wollte.
„Ja, das will ich“, meinte Ruben entschlossen, „Ich bin übrigens Ruben, und die nette Dame, die Dir den Kakao gegeben hat, ist Lilith.“
„Rebekka“, erwiderte Rebekka kurz, und während sie die Kapuze vom Kopf streifte, so dass ihr kecker Bürstenkopfschnitt zum Vorschein kam, rutschte der Ärmel am linken Arm ein wenig hinauf. Narben wurden sichtbar. Selbstzugefügte Wunden. Als Rebekka Liliths Blick bemerkte, zog sie den Ärmel rasch wieder hinunter, bis vor zu den Fingerspitzen. Sie versteckte ihre Verletzungen unter langen Ärmeln, die äußeren, und die inneren in sich selbst.
„Ich finde es auch schön, dass Du da bist“, erklärte nun Ruben seinerseits, „Wie alt bist Du eigentlich?“
„16“, kam die rasche Antwort, „Es ist lange her, dass ich Kakao getrunken habe. Mama hat ihn mir früher immer gemacht, und dann haben wir uns vor den Kamin gekuschelt und sie hat mir vorgelesen, also, als ich noch ganz klein war. Später haben wir geredet. Aber das ist lange her, das ist auch egal.“ Mit einem Satz wollte Rebekka nicht nur das Bild, sondern auch das Gefühl der Geborgenheit vom Tisch wischen. Sie schnappte sich ein Blatt Papier und einen Bleistift, wie gedankenverloren und begann scheinbar darauf herumzukritzeln.
„Solltest Du nicht in der Schule sein?“, fragte Ruben stirnrunzelnd.
„Dort habe ich nichts mehr verloren“, erklärte Rebekka, völlig in ihre Zeichnung vertieft.
„Und arbeiten?“, blieb Ruben hartnäckig.
„Will mich ja keiner, so wie ich bin“, sagte Rebekka trotzig.
„Und zu Hause?“, warf nun Lilith ein.
„Dort will man mich am allerwenigsten“, meinte Rebekka, und beugte sich noch tiefer über ihr Blatt.
„Was ist passiert?“, fragte Lilith.
„Nichts, gar nichts. Aber es ist alles so verlogen. Da heißt es immer, Familie, das ist da, wo sie einen lieb haben, aber das lieb haben, das ist abhängig davon wie Du Dich benimmst oder wie Du aussiehst“, meinte Rebekka, „Und wenn es nicht passt, dann wird immer herumkritisiert. Dann war da noch der neue Bruder. Ständig sollte ich aufpassen. Alles drehte sich nur um ihn, und alles was ich machte war falsch. Ich war völlig abgemeldet. Die merken gar nicht, dass ich nicht mehr da bin. Ich kann nichts. Ich bin nichts. Ich habe nichts.“ Endlich legte Rebekka den Bleistift weg, der ein blutendes Herz auf das Papier gezaubert hatte. Es war von einer Intensität und Tiefe, dass Ruben und Lilith nur staunen konnten. Und dieses Mädchen behauptete von sich, dass es nichts könne?
„Was würdest Du Dir wünschen?“, fragte Lilith leise.
„Dass sie mich einfach in den Arm nimmt und mich so wie ich bin“, sagte Rebekka ebenso leise, und jetzt war die Sehnsucht da und die Wehmut und der Schmerz. Das Tor hatte sich geöffnet, für die Worte und für die Tränen. Als erst waren die Worte. Dann waren die Tränen. Und Lilith nahm sie in den Arm, wie ein Kind, das sie eigentlich auch noch war. Rebekka ließ es geschehen und lehnte ihren Kopf an Liliths Schulter.
Heiße Schokolade ist gut fürs Herz, auch fürs Herz. Aber eine Umarmung, ohne Wenn und Aber, die mich meint, wie ich bin, in meinem Selbstsein, aber auch in meiner Verlorenheit und Verlassenheit, in meinen Zweifeln und in meinen Ängsten, das ist wie ein kleines Stück Heimat, das man sich zurückerobert. Gehalten werden, fest und sicher, warm und geborgen. Eine Umarmung ist gut fürs Herz, auch fürs Herz. Geschehen lassen, ohne ein Wort. Einfach da sein. Nicht mehr urteilen, nicht mehr qualifizieren, sondern einfach da sein lassen.
„Du bist, und so wie Du vor mir bist, so ist es gut“, sagte Lilith.
Es war für Rebekka Zeit nach Hause zu gehen und ihre Mutter zu umarmen. Auch sie würde jemanden brauchen, der sie so nimmt wie sie ist.
Und an diesem Abend fand sich die Zeichnung von dem blutenden Herzen in der Auslage, das verbunden war mit der Umarmung, so dass die Verwundung heilen konnte. Umarmung als Annahme des Anderen, der darin zum Du wird.
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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