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Life is too short for boring stories

Ich hatte geträumt,
von einer Wiese,
auf der ich stand,
mit weit ausgebreiteten Armen,
eingehüllt in lange, faltige Gewänder.

Immer wieder flogen Vögel auf mich zu,
hielten sich an den Falten des fließenden Kleides fest,
landeten in meinem Haar,
pickten Körner heraus
und entschwanden,
bloß um einige Momente später wiederzukehren.
Sachte bewegte ich mich,
um die Vögel nicht zu beunruhigen,
doch diese irritierten meine Bewegungen
in keinster Weise.
Sie kamen und flogen weg
Immer und immer wieder.
Und die Körner,
die wohl in meinem Gewand verborgen waren,
schienen unerschöpflich zu sein.
Sie gingen nicht nur nicht aus,
ganz im Gegenteil
je mehr Vögel kamen
und sich daran gütlich taten,
desto reichlicher war das Futter.

Vorsichtig drehte ich die Handinnenflächen nach oben.
Mitten auf der Hand,
explizit auf den Handballen,
landete ein Spatz,
wohl eine Spatzendame,
denn ihr Gefieder war braun und unscheinbar
und sie sah mich an,
mit diesen kleinen, braunen Knopfaugen,
mit dem Kopf in spezifischer Weise ruckend.

„Wenn ich jetzt die Hand schließe,
kann ich Dich zerdrücken,

wie eine weiche, reife Weintraube“,
schoss es mir durch den Kopf,
und ich schrak zurück,
vor meinen eigenen Gedanken.
„Nie, nie im Leben
würde ich so etwas tun“,
schrie es geradezu in meinem Kopf,
als wollte ich das Gedachte
allein durch die Kraft der Lautstärke vernichten,
doch dann fügte ich hinzu:
„Nein, natürlich tue ich es nicht.
Aber ich habe die Möglichkeit,
genauso wie ich jene habe,
dieses Leben zu schützen,
das so viel schwächer ist als ich.
Es liegt an mir,
wie ich meine Kräfte einsetze.“

Immer noch saß die kleine Spatzendame
auf meiner Handinnenfläche,
als würde sie abwarten
bis sich der Widerstreit
in meinem Inneren gelegt hatte.

„Ich werde schützen“,
sprach ich sie an,
und als wäre es ein Startsignal
hüpfte der kleine Vogel meinen Arm entlang
bis zu meinem Ohr.
„Schützen und heilen“,
flüsterte sie zwitschernd.
Vielleicht war es auch wirklich nur ein Zwitschern,
doch die Botschaft war eindeutig.
Dann flog sie davon.

Ich sah der Spatzendame nach,
bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war.
Dann senkte ich den Blick,
zum Gras vor meinen Füßen.
Ein kleiner Vogel saß da
und rührte sich nicht,
einer von vielen wohl,
aber irgendetwas war seltsam.
Ich ging in die Knie
und streckte die Hände nach ihm aus,
denn immer noch konnte ich nicht erkennen,
woran es lag,
dass er sich so gar nicht rührte.

„Hab keine Angst“,
flüsterte ich ihm beruhigend zu,
„Ich will Dir nur helfen – und heilen,
wenn es notwendig ist.“
Doch der Vogel hatte keine Angst.
Ganz ruhig saß er da,
während meine Hände immer näher kamen,
bis sie ihn berührten.
Die weichen Federn.
Fast wirkte er wie ein Jungvogel,
der aus dem Nest gefallen war,
und nun vergessen zu haben schien,
wie es ging,
das mit dem Fliegen
oder auch nur Herumhüpfen.
„Hab keine Angst“,
wiederholte ich leise,
doch ich merkte,
dass ich meine Worte
eigentlich an mich selbst richtete,
denn ich fürchtete die Entdeckung,
„Was ist nur mit Dir?“
fügte ich deshalb hinzu.

Vorsichtig hob ich ihn auf.
Die Füße und die Flügel
hatte er ganz fest an den Körper gepresst.
Ich verstand nicht,
immer noch nicht.
Erst als ich die Finger
über sein zartes Gefieder gleiten ließ,
spürte ich etwas,
das sich ganz anders anfühlte als die Federn.
Ein dünner, durchsichtiger Faden
war um ihn gewickelt worden.
Er war kaum zu erkennen,
doch ich spürte ihn.
Es war der Faden,
der immer und immer wieder um seinen Körper
geschlungen worden war
und damit sowohl Flügel als auch Füße
unbrauchbar machte.
Vorsichtig tastete ich den kleinen Körper ab.
Auch wenn ich es nicht sehen konnte,
so musste doch irgendwo ein Anfang
oder ein Ende dieses Fadens sein.
Endlich ertastete ich einen Ausläufer,
den ich vorsichtig
zwischen Daumen und Zeigefinger nahm.
Tatsächlich konnte ich ihn anheben
und so den Faden
Stück für Stück lösen.

Zentimeter um Zentimeter
wickelte ich von dem kleinen Vogel ab,
der es sich still und geduldig gefallen ließ,
bis endlich das letzte Stück
von ihm entfernt war.
Er streckte die Beine
und breitete die Flügel aus,
wie um mich zu überzeugen,
„Schau nur, ich bin heil.“
Meine Sorge,
derjenige, der ihn eingebunden hatte,
hätte zu fest zugezogen,
dass sich der dünne Faden ins Fleisch geschnitten
und damit schmerzhafte Wunden hinterlassen hatte,
erwies sich als unbegründet.
Strahlend wie der junge Tag
erhob sich der Vogel in die Luft
Wie sehr er es zu genießen schien,
dass er wieder frei fliegen
und sich bewegen konnte.

Aus: Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand

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