Edgar Barfuß, stramme 84 Jahre alt und Besitzer des Krimskramsladens erwachte am nächsten Morgen, weil er sich angeatmet fühlte. Doch wer sollte ihn anatmen? Seit seine Frau Elli vor zwei Jahren verstorben war, hatte er sein Schlafzimmer mit niemandem mehr geteilt. Irritiert öffnete er die Augen und sah in zwei dunkle Hundeaugen. Schlagartig fiel es ihm wieder ein, dass er am Abend zuvor die kleine Tinka aus dem strömenden Regen zu sich geholt hatte. Irgendwie fühlte es sich gut an, nicht mehr alleine zu sein. Als Tinka merkte, dass der Mensch, der sie in sein Haus gelassen hatte, endlich wach war, fing sie an, lebhaft mit dem Schwanz zu wedeln. „Ist schon gut“, sagte Edgar lächelnd zu ihr, „Wir gehen gleich.“ Sicherlich musste sie hinaus, dachte er. Außerdem bräuchten sie noch Futter. Aber wie sollte er spazieren gehen? Sie trug zwar ein Halsband, aber natürlich war sie ohne Leine gekommen. Da fiel ihm ein, dass da noch die Leine von Robin sein musste. Wie lange war es jetzt her, dass ihr Hund verstorben war? Sicher zwanzig Jahre, aber die Leine hatten sie nie weggegeben, als hätten sie gewusst, dass sie noch einmal gebraucht werden würde. Wie an diesem Morgen.
Als Edgar mit Tinka an der Leine vor die Ladentür trat, erwartete sie herrlicher Sonnenschein. Nichts mehr erinnerte an das Gewitter von letzter Nacht. Tinka ging mit ihm mit, als wäre es niemals anders gewesen. Unterwegs besorgten sie Futter für Tinka, drehten noch eine Runde durch den Park und machten sich wieder auf den Heimweg. Schließlich war es Zeit, den Laden zu öffnen. Wieder fiel ihm sein Versprechen von letzter Nacht ein, dass er Tinka niemals im Stich lassen würde und damit verbunden seine Sorge, ob er dieses Versprechen auch einlösen könnte, als Tinka unversehens loslief. Unwillkürlich ließ Edgar die Leine los. Tinka war schnurstracks zu einem Mädchen gelaufen, das vor der geschlossenen Türe zum Krimskramsladen stand, um sie stürmisch zu begrüßen. Das erste, was Edgar an dem Mädchen auffiel, war ihr feuerrotes Haar, das in der Sonne glänzte. Im Näherkommen sah er auch die Sommersprossen und eine Freude, die auch ihr Gesicht strahlen ließ. „Hallo!“, sagte sie, „Ich bin so froh, dass ich Tinka wiedergefunden habe. Ich dachte schon, sie wäre überfahren worden oder erfroren oder von skrupellosen Hundevermehrern gefangen worden.“ „Hallo!“, meinte Edgar, „So wie ich das sehe, mag Dich Tinka sehr gerne. Magst Du nicht reinkommen und mir erzählen, woher Du sie kennst?“ „Sehr gerne“, erwiderte das Mädchen. Tinka wich nicht mehr von ihrer Seite. Einige Zeit später saßen sie in der gemütlichen Ecke vor dem Kamin und genossen ihren Tee. „Mein Name ist Fenella Farquhar“, begann das Mädchen zu erzählen, „Fr. Dr. Wächter wohnte nicht weit von uns entfernt. Solange ich mich erinnern kann, wünschte ich mir einen Hund. Eines Tages traf ich die beiden beim Spazierengehen und Tinka lief sofort auf mich zu, begrüßte mich, als würde sie mich schon ewig kennen. Und da erzählte mir Inge, also Fr. Dr. Wächter, dass sie nicht mehr so gut auf den Beinen wäre und jemand suchte, der vielleicht ab und an mit Tinka spazieren ginge. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich über dieses Angebot freute. Und plötzlich waren sie weg, beide. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, nur, dass diese schreckliche Frau, die offenbar ihre Tochter ist, am liebsten gesehen hätte, dass Tinka tot umfiele, damit sie keine Scherereien hatte. Ich war schon sehr verzweifelt, als mir einfiel, dass die Fr. Doktor immer mit Tinka bei Ihnen war. Deshalb hoffte ich, die Kleine wäre zu ihnen gelaufen. Und so war es dann ja auch.“ „Ich freue mich sehr, dass Du uns gefunden hast“, sagte Edgar nachdenklich, „Du kommst wie ein Geschenk des Himmels, denn wie Du siehst, bin ich auch nicht mehr der Jüngste, so dass ich mir ebenso Sorgen mache, was mit Tinka wird, wenn ich nicht mehr so kann.“ „Ich darf also weiter mit ihr spazieren gehen?“, fragte Fenella. „Ich wäre sehr froh darüber“, erklärte Edgar bedächtig, „Denn ich habe ihr versprochen, sie nie im Stich zu lassen, aber in meinem Alter weiß man ja nie und wenn mit mir was sein sollte, weiß ich sie in guten Händen.“ „Das klingt wunderbar“, meinte Fenella. „Ich hoffe nur, dass die Erb*innen keine Probleme machen“, fügte Edgar noch hinzu, ohne zu wissen, dass seine Sorge durchaus berechtigt war.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg


Alles ganz normal! Geschichten aus dem Leben
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