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Life is too short for boring stories

Dr. Stephan Heidinger, seines Zeichens führender Manager eines internationalen IT-Konzerns, saß angespannt am Lenkrad seines Wagens und verfluchte seine Frau, denn wegen ihrer kleinen Pläne hatte er heute einfach alles so liegen und stehen lassen müssen, um ihre gemeinsame Tochter vom Kindergarten abzuholen. Natürlich war es in Ordnung, dass seine Frau arbeiten ging, doch nur während der Zeit, in der die Tochter im Kindergarten war. Schließlich hatten sie einen Deal: Er verdient das große Geld und sie kümmert sich um die Kleine. Arbeiten ja, aber nur, wenn es nicht auf Kosten der Kleinen ging. Das hatte er ganz klar festgestellt. Und wer hielt sich jetzt nicht daran? Seine liebe Frau. Natürlich, sie hatte es ihm plausibel erklärt. Sie bekäme die Chance in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten, darüber hinaus mehr zu verdienen und dennoch mehr zu Hause zu sein, weil sie vieles vom Home Office aus erledigen könne. Nur dieses Vorstellungsgespräch, das ginge terminlich nicht anders. Natürlich hatte er großmütig zugesagt, dass er schon mal die Kleine übernehmen würde, wenn seine Frau Unterstützung bräuchte. Aber er hätte doch nicht im Traum daran gedacht, dass sie das auch in Anspruch nehmen würde. Aber jetzt hatte sie es getan, und er musste in den Kindergarten.

Zufrieden sah Stephan auf die Uhr, denn er war wirklich auf die Minute pünktlich. Wer jedoch nicht bereits abreisefertig in der Garderobe stand war seine Tochter. Wo war das Mädchen bloß? Hilflos sah er sich um. Da entdeckte er sie, an einem kleinen Tisch, vertieft in eine Zeichnung.

„Sophie!“, rief er, und seine Stimme klang drohend, doch das Mädchen sah nicht einmal auf, als würde er gegen die Wand sprechen. Er spürte wie der Ärger in ihm hochstieg, als erst durch seinen Bauch, dann durch den Hals, und machte sich Luft: „Sophie, Du kommst jetzt sofort hierher!“ Verdattert sah das Mädchen doch endlich auf.

„Hallo Papa! Darf ich das noch machen?“, fragte sie verdutzt, „Wo ist Mami?“

„Die kommt heute nicht. Aber jetzt bin ja ich da. Und nein, Du kannst es nicht fertigmachen“, antwortete er barsch.

„Warum nicht?“, fragte Sophie.

„Weil wir keine Zeit für sowas haben“, erwiderte Stephan. Gehorsam räumte das Mädchen die Stifte weg und verabschiedete sich von der Kindergärtnerin. Nervös stand Stephan neben seiner Tochter, während sie sich langsam anzog.

„Ich habe heute mit Paula gestritten“, erzählte Sophie, „Sie hat gesagt, sie ist nicht mehr meine Freundin.“ Ein trauriger Blick wanderte hinauf zu ihrem Vater, wobei sie innehielt. „Zieh Dich doch endlich fertig an!“, befahl er, während er genervt auf die Uhr sah, „Sie ist also nicht mehr Deine Freundin? Und das nennst Du ein Problem? Ich sag Dir mal was, hab einmal richtige Probleme, so wie ich, dann reden wir weiter. Aber das ist doch Pippifax. Ich muss wegen Dir alles liegen und stehen lassen, bloß um Dich zu holen, und dann trödelst Du hier herum!“ Wortlos sah sie ihn an, als würde sie ihn nicht verstehen, und sie tat es wohl wirklich nicht, denn in ihrer kleinen Welt war die Freundschaft zu Paula ein wichtiger Bestandteil. Für Sophie stand das Leben auf dem Kopf. Da nahm der Vater die Sache in die Hand und zog seine Tochter fertig an.

Eine kleine Sorge, die Sophie beschäftigte. Stephans Sorgen hingegen, ja, die waren groß und wichtig. Aber er hatte ihr das erklärt. Dank ihm erhielt sie endlich einen richtigen Blick auf die Welt und auf das was wirklich zählt. Sie musste es wohl verstanden haben, so zumindest sein Fazit, denn nie mehr belästigte Sophie ihren Vater mit ihren kleinen Sorgen, nicht im Kindergarten, nicht in der Schule und auch nicht als sie Hals über Kopf das Elternhaus verließ. Nie mehr wieder erfuhr er was in seiner Tochter vorging. 

„Seltsam, dass mir Sophie nichts erzählt“, sagte Stephan eines Tages wie beiläufig zu seiner Frau.

„Wahrscheinlich, weil sie immer nur so kleine Sorgen hat, die im Gegensatz zu Deinen großen nichts zählen“, antwortete diese lapidar. Und Stephan war es sich zufrieden. Sophie hatte ihre Lektion gelernt, dank mir, meinte er selbstgefällig und las weiter in der Zeitung. Was für ein guter Vater er doch war.

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2 Gedanken zu “Kleine und große Sorgen

  1. oma99 sagt:

    Was lernen Kinder/Menschen, wenn ihr Sorgen und Nöte nicht für wichtig genug von den Bezugspersonen genommen werden?

    – Lernen sie, was wirklich wichtig ist
    – oder lernen sie, was ihnen nicht wichtig sein darf?

    – Lernen sie, sich zu selbstbewussten, sich selbst ausreichend wert schätzenden Individuen zu entwickeln
    – oder eher zu gehorsamen (Massen-)Wesen, die immer brav Andere und deren “Wichtigkeiten” über sich selbst stellen?

    – Lernen sie ein ausgewogenes Maß Selbstwertgefühl verbunden mit Empathie für andere Lebewesen,
    – oder eher immer schön zu tun UND denken, was Eltern, Vorgesetzte, Lehrer*innen, Parteivorsitzende, oder anders irgendwie Stärkere, in den Kram passt?

    Was wollen Wir, wie sollen sich unsere Kinder und Enkelkinder entwickeln, fühlen und verhalten? Wie sollen sie Leben können?

    1. novels4utoo sagt:

      Sehr gute Fragen. Ich hoffe, dass sich diese viele stellen. Allerdings gibt es auch Menschen (oh ja, es gibt sie), die sich empathisch auf andere einlassen, egal ob es sich um Kinder oder Tiere handelt und aus diesem Einlassen zeigen, dass dieser Moment des Schmerzes, dass dieses Problem wichtig ist, weil sie es aus der Situation des anderen Verstehen und sie so zu selbstbewussten Persönlichkeiten werden lassen, die gerade aus diesem Vertrauen, gehört zu werden, das weitergeben. Danke für Deinen Kommentar

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