Immer noch hieltst Du es nicht aus, außerhalb des Regens, immer noch konntest Du die Wärme nicht ertragen, wolltest Du nicht vor dem Feuer erstarren, diesem inneren Bild, aber vielleicht würde Dir das Erzählen dazu verhelfen es wieder zu können. Und es kam der Regen. Und Du kamst, beharrlich und ungehindert.
„Und ich war gefangen von diesem Wunder an Schönheit und Grazie, während mich ein Schauer vor der Vollkommenheit überlief. Ja, sie war makellos, meine Tante Morgana, Schwester meiner Mutter. Ich fühlte mich zu ihr hingezogen, und gleichzeitig abgestoßen. Es drängte mich zu ihr, und doch wurde mir in ihrer Gegenwart kalt, eiskalt, so dass selbst das Bild vom Feuer vor meinen Augen zu gefrieren schien. Meine Mutter war nicht halb so schön wie sie gewesen, aber doch, wie viel wohler hatte man sich in ihrer Nähe gefühlt, denn meine Mutter hatte Wärme und Herzlichkeit ausgestrahlt. Jetzt erst fiel mir auf, dass eigentlich nie von meiner Tante gesprochen worden war, so lange ich mich entsinnen konnte. Ich hatte lediglich gewusst, dass es sie gab. Es schien so etwas wie ein geheimes Einverständnis zu herrschen, dass über diese Frau nicht gesprochen wurde. ‚Du wirst bei uns bleiben, Morrigan’, riss mich meine Tante aus meinen Gedanken, ‚Ich biete Dir meine Gastfreundschaft und eine Unterkunft.’ ‚Ich glaube nicht, dass ich bleiben möchte’, entgegnete ich voller Überzeugung. Sicher, ich wusste nicht, wo ich sonst hinsollte, aber hier, hier wollte ich auf gar keinen Fall bleiben. Lieber im Wald übernachten, im dunklen schaurigen Wald. Doch da waren die Wölfe. Vielleicht kämen sie wieder mich zu beschützen. ‚Ich möchte gehen’, sagte ich fest, doch da fuhr Tante Morgana auf mich zu. Jetzt erst bemerkte ich, dass sie im Rollstuhl saß. So sehr hatte sie mich eingenommen, dass ich sogar so etwas Auffälliges zu übersehen vermochte. ‚Ich denke nicht, dass Du eine Wahl hast’, zischte sie leise zwischen den Zähnen hervor, als sie knapp vor mir zum Stehen kam und die Eiseskälte, die von ihr ausging, ließ mich taumeln. ‚Doch, ich werde einfach gehen’, antwortete ich. ‚Schade. Wirklich sehr schade. Ich hatte gehofft, wir könnten das freundlich regeln, aber ganz egal ob Du willst oder nicht, Du wirst bleiben. Niemand verlässt mich, dem ich es nicht erlaube’, sagte sie geradeheraus. ‚Deshalb sitzt Du wohl auch da drinnen, weil sich jemand was nicht gefallen lassen wollte!’, entgegnete ich scharf. ‚Ich kann mir vorstellen, dass Du nicht viel von mir weißt. Aus irgendeinem Grund hat meine Schwester nicht über und nicht mit mir gesprochen. Dabei habe ich sie doch so geliebt’, begann sie zu erzählen, ‚Und dennoch hast Du mit Deiner Vermutung vollkommen danebengetroffen. Niemand vor Dir wollte mich je verlassen. Alle verfielen mir und meiner Schönheit. Dass ich nun meine Beine nicht mehr benutzen kann, das verdanke ich jemanden, der mich nicht loslassen wollte. Bevor er sich aus dem Fenster zu Tode stürzte, stieß er mich die Treppe hinunter. Was für ein Schwächling. Richtig peinlich. Völlig unverständlich, dass ich diesem Menschen je erlaubt hatte, Gefühle für mich zu hegen. Ja, Gefühle haben sie bald einmal, aber die Konsequenzen, die wollen sie nicht tragen. Das ist der Fluch der Schönheit. Alle, alle sind mir verfallen. Zuletzt wagte ich mich nicht einmal mehr vor die Türe. Der einzige, der unbeeindruckt davon war, war Dein Onkel, aber er ist auch blind. Deshalb war er auch der Einzige, der für mich in Frage kam, der Einzige, der meiner würdig war. Bis jetzt hatte nur Deine Mutter um das Geheimnis meines Unfalls gewusst, und sie hat dieses Wissen mit ins Grab genommen. Leider bliebst Du übrig. Du weißt es nun auch. Deshalb kann ich Dich nicht gehen lassen, nie mehr wieder. Du hast nur die Wahl, freiwillig zu bleiben oder mit Zwang. Egal wie, bleiben wirst Du. Und mach keinen Versuch zu fliehen. Wir sind mitten im dichtesten Wald. Du hättest keine Chance’, vergaß sie nicht zu erwähnen. Doch ich dachte an die beiden Raben, an die beiden Wölfe. Kurz besann ich mich. Hier war offenbar niemand, außer einer Frau im Rollstuhl und einem Blinden. Was konnten die mir schon anhaben? Also lief ich zurück zum Tor, doch da fühlte ich mich gepackt. Starke Arme umwanden mich, und so sehr ich mich auch wehrte, ich hatte keine Chance auszukommen. Er war vielleicht blind, mein Onkel Ernst, aber deshalb nicht schwach. Sein Griff war unerbittlich. So schleifte er mich gut 100 Stufen eine steile Treppe zu einem Turmzimmer hinauf, in dem er mich einschloss. Und die Dunkelheit hatte Erbarmen mit mir.“
So sehr ich auch hoffte, Du würdest weitererzählen, ich könnte Dich halten, der Regen ließ nach, und Du entkamst mir, wie ein Blatt, das der Wind verweht.