Lange ließ er auf sich warten, der nächste Regen, der Dich zu mir tragen sollte, wochenlange Dürre, dabei war so vieles offen geblieben. Was war mit Dir weiter geschehen, allein und verlassen eingesperrt in diesem Turmzimmer.
„Ich tastete mich durch das kleine Zimmer und fand ein Bett, auf das ich mich fallen ließ. Gnädig ummantelten mich die Müdigkeit und der Schlaf, der traumlos blieb. Ich erwachte, als die Sonne durch das kleine Turmfenster schüchtern ihre Strahlen schickte. Nun konnte ich auch den Raum sehen. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Mehr war nicht darinnen. Bei der Türe stand ein Tablett. Offenbar hatte jemand daran gedacht, dass ich essen müsste, doch ich beschloss nicht zu essen und einfach liegen zu bleiben, bis irgendetwas geschah. ‚Du musst essen’, hörte ich plötzlich eine wohlbekannte, krächzende Stimme in meinem Kopf. Durch das Fenster waren sie unvermittelt hereingekommen, meine Begleiter seit jener Nacht. ‚Du musst bei Kräften bleiben’, krächzte der andere in meinem Kopf. ‚Und wozu? Alles habe ich verloren um jetzt hier eingesperrt zu sein. Wozu sollte ich weiterleben? Wozu sollte ich bei Kräften bleiben?’, schleuderte ich ihnen entgegen. ‚Die weiß ja nun wirklich gar nichts’, krächzte der eine Rabe in meinem Kopf und schüttelte wild sein Gefieder. ‚Aber eigentlich ist ihr kein Vorwurf zu machen. Sie haben ihr auch nie was erzählt. Woher soll sie irgendetwas wissen, das arme Mädchen’, kam das Krächzen in meinem Kopf vom anderen Raben. ‚Nun hör mal zu Morrigan, Du bist auserkoren, mindestens vier Menschen das Leben zu retten und eine schreckliche Wahrheit aufzudecken. Nichts darf im Verborgenen bleiben, ganz gleich wie viele Jahre es her ist oder wie sicher sich die Schuldigen fühlen. Es muss gesühnt werden’, wandte sich nun jener Rabe an mich. ‚Und das alles soll ich bewerkstelligen, hier in dem Turmzimmer?’, fragte ich, ohne die geringste Hoffnung zu hegen. ‚Du wirst es noch früh genug erfahren’, begann der erste Rabe von Neuem, ‚Aber jetzt musst Du essen.’ Und ich aß. Vielleicht, weil ich anfing wieder Hoffnung zu schöpfen, mitten in einer Situation, die aussichtsloser nicht sein konnte, aber andererseits, konnte es genau darum eigentlich nur mehr besser werden, und es stimmte, ich konnte das doch nicht einfach so mit mir geschehen lassen. Die Raben blieben bei mir, und ich fühlte mich nicht mehr so verlassen. Sie erzählten mir von dem Wald, der uns umgab, von den Wölfen, die mit ihnen gingen und dem Schmerz, von den Menschen so verachtet zu werden, nur weil sie nicht so schön wären oder so bezaubernd singen könnten wie andere Vögel. ‚Menschen lassen sich immer nur vom Äußeren leiten’, sagte der eine Rabe abschließend. ‚Aber damit nicht genug’, fügte der andere hinzu, ‚Nicht nur, dass sie uns hässlich nennen, sie geben uns auch die Schuld an allem möglichen Unglück. Sehen uns als Vorboten für das Schlechte, als wenn wir was dafürkönnten. Dabei durften wir dereinst sogar auf der Schulter des Gottes Odin sitzen, der unsere Gaben zu schätzen wusste.’ ‚Die Gabe in die Vergangenheit und in die Zukunft zu sehen’, ergänzte nun der erste Rabe. ‚Was bringt es in die Vergangenheit zu sehen?’, fragte ich verwirrt, die kennt man doch schon. ‚Deine Sicht, nur Deine, aber wir haben das Ganze im Auge’, erklärte der eine Rabe. ‚Dann erzählt mir was in der letzten Nacht wirklich geschah und wie es weitergeht’, verlangte ich begierig. ‚Du wirst es erfahren, wenn Du es erträgst’, erwiderte der zweite Rabe lapidar. So verging der Tag, und auch diesmal schlief ich rasch ein, doch etwas weckte mich, mitten in der Nacht, ein Hämmern und Wehklagen, das mir in den Ohren dröhnte. Es tönte von oben herunter. Da musste noch ein Zimmer sein. Es klang so jammervoll und hoffnungslos, beinahe, als wäre demjenigen dasselbe wie mir widerfahren. War das vielleicht meine Aufgabe? War das der Grund warum ich hier gelandet war?“
Und wieder ließt Du viele Fragen offen, als Du lautlos wie eine Katze in der Nacht verschwandst.