Diese Verletzungen prägen sich ein, äußerlich und innerlich, begleiten und prägen uns. Es ist nur die Frage, wie wir damit umgehen, aber auch wie unsere Umwelt darauf reagiert. Bei Mark war es so, dass die Menschen ihn mieden, versuchten, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. So gefährlich er wirkte, musste er es wohl tatsächlich sein. Mit der absoluten Sicherheit von Vervorurteilenden schlossen sie messerscharf, dass seine Narben von handgreiflichen Auseinandersetzungen stammen mussten, die er verursacht hatte. Schließlich war er das Paradebeispiel eines groben Klotzes, unsensibel und gefühllos, der nur Gewalt kennt. Damit waren sie fertig. Hätten sie hier gesessen, so wie Yvonne, dann hätten sie erahnen können, dass nichts von der Wirklichkeit, von Marks echten Wesen entfernt war, als diese Behauptungen. Aber wer nimmt sich schon die Zeit, jemand anderen nicht einfach mit Vorurteilen abzustempeln, ihn in eine Schublade zu stecken und dort zu belassen? Kaum jemand. Yvonne hätte es getan, auch ohne Entführung, aber sie wusste, dass Mark schon so oft enttäuscht worden war, dass er es nicht mehr glauben konnte. Wohl war auch Yvonne durch diese Narbe gezeichnet, aber bei ihrer Gestalt war es leicht anzunehmen, dass sie das Opfer gewesen war. Das änderte vieles. Natürlich hatte Yvonne eine Zeit lang versucht diese Verunstaltung zu verstecken, aber irgendwann war sie so weit, dass sie sagte „Das ist meine Geschichte. Entweder man nimmt mich so, wie ich bin oder man lässt es.“
„Und Du bist trotzdem bei Deiner Mutter geblieben?“, fragte nun Mark.
„Nein, ich kam weg von ihr“, sagte Yvonne kopfschüttelnd, „Sie hatte mich wohl schon oft misshandelt, aber immer so, dass niemand etwas sehen konnte. Aber das ließ sich nun beim besten Willen nicht mehr verheimlichen. Das Jugendgericht entschied, dass ich zu einer Tante kommen sollte, die alles andere als erfreut darüber war. Allerdings erhielt sie Unterhalt für mich, was sie ein wenig gewogener stimmte. Größtenteils ließ sie mich einfach in Ruhe, was in meiner Lage schon ein Fortschritt war. Ich sorgte aber auch dafür, dass ich so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen konnte. Ich nahm an Beschäftigungen an, was ich bekommen konnte. Aber ich war unglücklich, bis ich endlich bei einer NGO unterkam, so dass ich endlich einer Tätigkeit nachgehen konnte, die in meinen Augen sinnvoll war. Dann stieß ich auf die LLL, die Life Liberation League, bei der ich viele tolle Menschen kennenlernen durfte. Ich erfuhr, dass jede*r ihre/seine Geschichte hat, die sie/er mit sich herumträgt. Es ist immer nur die Frage, was wir daraus machen. Man kann sich in seiner Trauer vergraben oder sich für andere einsetzen, denen es vielleicht noch viel schlechter geht. Es war mir, als hätte ich ein komplett neues Leben begonnen. Und in diesem Moment tauchte meine Mutter auf. Ich hatte sie seit vielen Jahren nicht gesehen. Ein paar Monate zuvor hätte ich sie wohl hochkant hinausgeworfen, doch ich hatte mittlerweile erfahren, dass sie mich zu ihrem Opfer gemacht hatte, weil sie selbst eines war. Missbraucht von ihrem Vater, verkauft und verraten, im Stich gelassen von ihrer Mutter und zuletzt bei einem Mann gelandet, der sie schlug, war es ihr nicht gelungen diesem Teufelskreis zu durchbrechen. All das war mir bewusst, als eine völlig gebrochene, bis auf die Knochen ausgezehrte Frau vor meiner Türe stand. Im ersten Moment hatte ich sie gar nicht erkannt, doch als mir bewusst wurde, wer da so elend und heruntergekommen vor mir stand, gab es für mich keinen Zweifel, dass ich ihr helfen musste. Die letzten Monate ihres Lebens habe ich sie gepflegt. Es war schon zu spät für sie. Der Alkohol und die Schuldgefühle hatten sie kaputt gemacht.“
„Aber Du hast sie durch die letzten Monate begleitet“, warf Mark ein, „Kann es sein, dass es mehr war, als sie je an Gutem erfahren hatte?“
„Ich nehme es fast an“, erklärte Yvonne nachdenklich, „Es ist sogar sehr wahrscheinlich.“
„Es ist beeindruckend, wie Du damit umgegangen bist, wie Du Dein Leben in die Hand genommen hast“, erwiderte Mark, während er ihr nochmals sanft über die Narbe strich. Daraufhin zog Yvonne ihn an sich und küsste ihn, sanft und innig. Und dieser Kuss war ein kleines Versprechen, sich anzunehmen wie sie waren, mit all diesen Verletzungen, den inneren wie den äußeren. Mark spürte ihren warmen, weichen Körper ganz nahe an seinem, während sie sich gehalten fühlte, wie noch nie in ihrem Leben.
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